Lichtfaenger 2 - Bruderkrieg
ob sie es sich einbildete, doch sie glaubte, eine Träne in Rays Auge aufblitzen zu sehen. Jils Kehle schnürte sich zusammen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinab. Ihre Glieder fühlten sich steif an vom langen Stehen.
Wieder hob Ray seine Hand ein paar Zentimeter an. Jil gab dem Impuls nach, danach zu greifen. Seine Haut war kühl. Jil spürte, wie er sie zu sich heran ziehen wollte, und obwohl seine Kraft bei Weitem nicht dazu ausreichte, ließ sie sich dazu erweichen, ihren Kopf auf seine Schulter zu legen. Jil wusste nicht, ob es an der Müdigkeit lag, die sie zu übermannen drohte, aber schlagartig durchfuhr sie eine innere Kälte, als ihr Gesicht die Haut in seiner Halsbeuge berührte. Mit jeder Sekunde fühlte sie sich schwächer, bis sie dagegen ankämpfen musste, nicht die Besinnung zu verlieren. Um sie herum rauschten die Blätter im Wind, irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Bellte wieder. Ein zweiter Hund antwortete.
Ray gab ein leises Brummen von sich, das beinahe wie das Schnurren einer Katze klang. Mit der freien Hand fuhr er Jil durch die Haare und streichelte ihr über den Rücken.
»Ich danke dir«, sagte er. Seine Stimme brach.
Er verstärkte den Druck und umarmte sie. Seine Kräfte schienen zu ihm zurückgekehrt zu sein. Jil genoss die Berührung, sie fühlte sich mit einem Mal beruhigt und unbekümmert. Sie spürte eine innere Verbundenheit zu ihm, als wären ihre Körper miteinander verschmolzen. Sie wusste, dass sie wütend auf ihn sein sollte, aber es gelang ihr nicht mehr. Und sie wusste auch, dass das Gefühl der Verbundenheit lediglich der sonderbaren Magie anzulasten war, die die Sedharym und Vartyden dazu verwendeten, den Menschen Lebenskraft zu entziehen.
Jil umfasste mit einer Hand Rays Nacken und presste seine Wange gegen ihre. Fühlte sich so das Sterben an? Alle Sorgen fielen von ihr ab, ihre Muskeln waren entspannt. Sie wollte diesen Zustand dieser wunderbaren Unbekümmertheit für immer festhalten. Sie spürte, wie eine Träne sich aus ihrem Auge löste und ihr bis ins Ohr lief.
Ray hatte Energie von ihr genommen, viel Energie. Sie hatte dieses Gefühl der Leichtigkeit schon einmal mit Cryson erlebt, wenn auch längst nicht so stark. Es war nur ein Trugbild. Wenn Ray sie aus diesem Zustand entließ, würde sie wieder Jil sein. Jil, eingeschlossen in ihrer sterblichen Hülle.
Jil hob den Kopf und sah Ray in die Augen. Ihre Gesichter waren nah beieinander, sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange. Auch in seinen Augen funkelten Tränen.
»Ich muss zusehen, dass ich hier wegkomme«, sagte er. Seine Stimme klang nun wieder fest. »Bald geht die Sonne auf, und ich bin immer noch schwach. Ich entschuldige mich bei dir.«
Jil runzelte die Stirn. »Wofür?«
»Ich habe deine Energie dazu benutzt, die Blutung zu stillen und mich soweit zu kräftigen, dass ich vielleicht aufstehen kann. Verzeih mir.«
»Diese Entscheidung musste getroffen werden. Ich bin froh, dass du sie mir abgenommen hast.«
»Dann hasst du mich nicht?«
Jil überlegte einige Sekunden. »Ich möchte es, aber ich kann es einfach nicht mehr.« Unwillkürlich musste sie lächeln. Ray tat es ihr nach.
»Ich habe zwar bislang nie selbst die Erfahrung gemacht, aber ich weiß, was die Energieübertragung in einem Menschen auslöst. Lesward hat oft genug davon Gebrauch gemacht, wenn er auf Frauenfang war. Es macht Menschen willenlos und zahm, sie lassen danach beinahe alles mit sich machen, was man von ihnen verlangt. Es ist etwas so Intimes, das sich niemals zwischen Fremden abspielen sollte.«
»Ich lasse bestimmt nicht alles mit mir machen, nicht einmal jetzt.«
Ray grinste und entblößte seine makellosen Zähne. »Du bist ja auch die starrköpfigste Zicke, die ich je kennengelernt habe.«
Sie kicherten wie zwei Kinder, die etwas angestellt hatten. Dann löste sich Jil aus Rays Umarmung und richtete sich auf. Stöhnend wuchtete Ray seinen Oberkörper nach oben. Er presste seine rechte Hand auf die Wunde und biss die Zähne aufeinander, als er sich zuerst auf die Knie erhob und dann langsam aufstand. Er wankte. Ein gräulicher Lichtschein im Osten kündigte den nächsten Tag an.
Ohne lange darüber nachzudenken, umfasste Jil mit einem Arm seine Hüfte und legte sich seinen anderen Arm über die Schulter. Der Größenunterschied war ihr dabei ein Hindernis. Sein Gewicht lastete schwer auf ihr. Ihre Beine waren noch immer schwach und zittrig.
»Komm, ich bringe dich noch
Weitere Kostenlose Bücher