Lichthaus Kaltgestellt
stattgefunden, wobei sich die Abstände geradezu klassisch verkürzt hatten. Dann war die Serie abgebrochen, was ihn sehr verwunderte. Alle Opfer waren auf dem Weg von und zur Arbeit oder, in zwei Fällen, zur Schule überwältigt worden. Die Überfälle waren immer an Stellen erfolgt, die schlecht einzusehen waren. Anschließend waren die Frauen an einen abgelegenen Ort geschafft worden, in ein verlassenes Haus etwa oder in eine Gartenlaube. Stefanie Cordes hatte der Täter in eine Hauseinfahrt gezogen und dann im Hinterhaus einer aufgegebenen Schreinerei für mehrere Stunden festgehalten. Lichthaus schloss sich der Ansicht der Kollegen an, dass der Täter die Frauen und den Tatort gezielt ausgesucht hatte. Er musste sie vorher beobachtet haben, ohne dass eines der Opfer im Vorfeld etwas bemerkt hätte. Hatte er ein Opfer überwältigen können, betäubte er es leicht mit Äther, um seine Gegenwehr einzudämmen, dann verschleppte er die Frau und wartete, bis sie wieder zu sich kam. Erst dann vergewaltigte er sie mehrfach, folterte mit Verbrennungen und Schlägen und würgte sie bis zur Ohnmacht. Alle hatten übereinstimmend ausgesagt, dass er hierbei immer wieder ihre absolute Unterwerfung eingefordert, sie bis zur Selbstaufgabe gedemütigt habe. Ein kranker Irrer.
Lichthaus verstand das Verhalten von Stefanie Cordes nun besser, für die allein das Erinnern an diese Stunden die Hölle sein musste. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um diesen Psychopathen zu fassen, und hoffte, dass Eva Schneider das letzte Opfer gewesen war. Eigentlich glaubte er aber selbst nicht daran.
Als er die Fälle chronologisch ordnete, fiel ihm auf, dass sich das Muster mit der Zeit geändert hatte. Die erste Vergewaltigung war hastig durchgeführt worden. Die junge Frau, eine Schülerin, die auf dem Weg zum Ballettkurs überwältigt worden war, wurde einmal vergewaltigt und in vergleichsweise geringem Maße misshandelt. Während er das Mädchen quälte, sprach der Mann kaum. Später ließ er sich mehr Zeit, schrie seine Opfer an und zwang sie, irrsinnige Sprüche nachzusprechen. Stefanie Cordes hatte immer wieder »Ich liebe dich« und »Ich bin dein untertänigstes Weib« sagen müssen. Seit dem dritten Überfall nahm er den Frauen Gegenstände ab. Perverse Souvenirs. Er riss Büschel von Schamhaaren aus und entwendete Kleidungsstücke, einmal den BH und zweimal den Slip. Die Akten gaben keinen Hinweis darauf, warum die Serie abgebrochen war. Er konnte nur spekulieren. Entweder hatten sich die Lebensumstände des Täters geändert. Eine feste Beziehung zum Beispiel oder er war woanders hingezogen. Doch wenn er weiter gemacht hatte, müssten auch Opfer zu finden sein.
Plötzlich quiekte Henriette auf und machte krachend in die Windel. Lichthaus legte die Akten zusammen und ging nach oben ins Kinderzimmer. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor zwölf. Er wickelte seine Tochter und schmuste ein wenig mit ihr. Anschließend legte er sie in die Wiege und betrachtete sie lange. Er würde alles tun, um den Täter zu kriegen und anderen Opfern und Familien ein solches Leid zu ersparen.
*
Als das Telefon schrillte, wusste Lichthaus, dass etwas passiert war. Sie hatten einen Anschluss im Flur, direkt vor dem Schlafzimmer, damit er bei nächtlichen Einsätzen nicht erst hinunter in die Küche zum Apparat laufen musste. Mühsam rappelte er sich auf und schaute automatisch auf die Uhr. Zwei Uhr vierunddreißig. Er kam schwankend auf die Beine, zog die Zimmertür zu und nahm ab.
»Ja?«
»Johannes, hier Thomas, tut mir leid, dass ich dich wecke, aber die Bereitschaft hat mich angerufen. Sie haben eine Leiche gefunden.« Er machte eine Pause.
»Na, wo und wer? Was wissen wir noch?« Lichthaus’ Kopf dröhnte. Seine Stimme klang unfreundlich.
»Bei den Schrebergärten, die gleich hinter dem alten Präsidium beginnen.«
»Und wo da?« Er war immer noch nicht wirklich wach.
»Auf der entgegengesetzten Seite. Bevor du die Metzerallee nach Heiligkreuz hinauffährst, zweigt unmittelbar unterhalb der europäischen Richterakademie die Bernhardstraße ab. Dort fließt ein Bach unter der Straße durch. Hier auf der rechten Seite.«
»Okay, den Weg am Bach entlang kenne ich. Kannst du mir schon Genaueres sagen?«
»Das Opfer ist noch nicht identifiziert. Es wurde in Brand gesetzt. Anwohner haben das Feuer unten am Bach bemerkt und die Kollegen gerufen. Der Körper ist so stark verbrannt, dass wir nicht einmal wissen, ob es sich um einen Mann oder
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