Lichthaus Kaltgestellt
wird zerbrechen, und keiner kann ihr helfen. Sie muss ja auch weiter für ihren Mann da sein. Wie der das wohl aufnehmen wird?«
Sie gingen zu Fuß, denn das Haus der Schneiders lag keine fünf Minuten entfernt. Die Rollläden waren heruntergelassen, um die Sonne abzuhalten, das wirkte aber, als wollten sich die Bewohner verschanzen.
Vor der Haustür zögerte Lichthaus einen Augenblick und drückte dann seufzend die Klingel. Sie lauschten dem Läuten, das weiter entfernt im Haus erklang. Einen Moment tat sich nichts. Sie sind nicht da, schoss es ihm erleichtert durch den Kopf, doch Sekunden später sah er Marianne Schneider auf sich zukommen, ihre Silhouette von den Buntglasfenstern der Eingangstür verzerrt. Sie öffnete zögernd die Tür und schaute ihm direkt ins Gesicht. Ihre Augen flackerten, und er sah, wie die Erkenntnis in ihr einschlug, wie eine tiefe Resignation den letzten Rest der Hoffnung verdrängte.
»Ihr habt sie gefunden.« Sie fragte nicht, sie stellte fest. Leise und hohl war ihre Stimme. »Sie ist tot, nicht wahr?«
Lichthaus konnte nicht sprechen, und es entstand eine traurige Pause.
»Ja, es tut uns sehr leid, sie ist tot.« Sophie Erdmann durchbrach die Stille. Er war ihr dankbar dafür. »Dürfen wir reinkommen?«
Marianne Schneider trat von der Tür zurück und führte sie mit ausdruckslosem Gesicht in das große Wohnzimmer, wo alle unschlüssig stehen blieben.
Lichthaus räusperte sich. »Wir haben sie heute Morgen im Wald bei Farschweiler gefunden. Es ist Eva, es besteht wohl kein Zweifel.« Er schaute sie an und war sich nicht sicher, ob seine Worte angekommen waren. Schnell wechselte er einen Blick mit Sophie Erdmann.
»Wollen Sie sich nicht setzen, Frau Schneider?« Sie fasste Marianne Schneider, die reglos wie eine Statue dastand und in eine Ecke starrte, an den Schultern und drückte sie sanft in einen Sessel. »Sollen wir Ihnen einen Arzt rufen?«
Unvermittelt verlor Marianne Schneider die Beherrschung. »Wozu brauche ich einen Arzt? Ich brauche keinen von diesen Quacksalbern. Ich brauche auch keinen Pfaffen, ich brauche niemanden.« Sie sprang wutentbrannt auf und fing an zu schluchzen. Ihre Stimme bekam einen gequälten, klagenden Ton. »Erst ist mein Mann unrettbar krank. Dieser Verfall! Das hat mich alle Kraft gekostet. Und jetzt Eva. Mein Kind.« Ihr versagte die Stimme, und sie weinte hemmungslos. Als sie schließlich wieder ansetzte, klang sie dumpf.
»Der Pastor war gestern hier. Die Wege des Herrn sind unergründlich. Prüfung und Läuterung.« Sie schrie. »Alles Scheiße! Gottverdammte Scheiße. Was habe ich getan, dass der ach so gute Gott mich so bestraft. Was, Herr Lichthaus?«
»Nichts. Manches passiert einfach so, ohne Plan. Ich kann Sie gut verstehen.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte verzweifelt brüllend heraus. »Sie können gar nichts verstehen. Nichts, überhaupt nichts.« Sie schaute ihn erbost an.
Lichthaus’ Magen krampfte sich zusammen, und er musste sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen. Bei Marianne Schneider schienen alle Dämme gebrochen zu sein. Es brach schier aus ihr heraus: Die Verzweiflung über die Krankheit ihres Mannes, die Angst um ihre einzige Tochter, der Schmerz über ihren Verlust.
Sie flüsterte fast, als sie weitersprach und die Tränen über ihr Gesicht liefen. »Sie gehen doch gleich hier raus und denken gerade noch: Die arme Frau. Und dann zu Hause warten Ihre Familie, Freunde zum Essen oder sonst was. Ein schöner Sommerabend. Ich war früher wie Sie. Alles war in Ordnung. Keine Geldprobleme, keine Probleme mit Eva oder in der Ehe; alles toll. Aber wir laufen auf einem schmalen Grat. Ein Arztbesuch, ein Zucken am Lenkrad oder irgendein perverses Schwein, und schon rutschen Sie ab und fallen.«
Sie wandte sich ab und blickte ziellos umher. Durch die Rollläden fiel schräg das Sonnenlicht rein. Lichthaus hörte den Verkehr unnatürlich laut vorbeirauschen. Das Gefühl, da draußen ist das Leben und hier drinnen der Tod, überkam ihn, und er wollte weg, da jetzt ohnehin kein Gespräch mehr möglich sein würde. Er wechselte einen flüchtigen Blick mit Sophie Erdmann.
»Frau Schneider, wir müssen noch mal …«
»Sie ist tot, das sagten Sie doch. Was wollen Sie also noch von mir?« Sie wirkte resigniert. »Gehen Sie jetzt. Ich muss zu meinem Mann.«
»Ich rufe Sie an.« Wortlos verließen sie den Raum.
Als sie in den Flur kamen, schaute Lichthaus durch einen Türspalt in den Nebenraum und sah dort Heinrich
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