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Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga

Titel: Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Cooper
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Schlund zwischen Erinnerung und Einbildung verschwunden. Und er war durch das Tor getreten, die riesigen Flügel waren ohne den geringsten Laut hinter ihm zugeschlagen und das Licht und der Tag und die Welt hatten sich so verändert, dass er ganz vergaß, wie es gewesen war. Er stand in einer großen Halle. Hier hinein fiel kein Sonnenstrahl. An den hohen Steinwänden waren auch keine richtigen Fenster, nur eine Reihe schmaler Schlitze. Zwischen diesen hingen Wandbehänge von so fremdartiger Schönheit, dass sie wie in einem milden Licht zu glühen schienen.
    Will war ganz benommen vom Funkeln der Tiere und Blumen und Vögel, die hier in so satten Farben eingewebt oder aufgestickt waren, dass sie wie farbiges Glas, durch das die Sonne scheint, aussahen.
    Bilder sprangen auf ihn zu: Er sah ein silbernes Einhorn, ein Feld roter Rosen, eine glühende Sonne. Über seinem Kopf wölbten sich die Balken des Dachstuhls in tiefem Schatten; andere Schatten verschleierten das Ende des Raumes. Wie im Traum tat er ein paar Schritte nach vorn, seine Füße machten keine Geräusche auf den Schaffellen, die den Steinboden bedeckten. Plötzlich sprühten Funken und ein Feuer flammte in der Dunkelheit auf. Es erleuchtete einen riesigen offenen Kamin an der Wand ihm gegenüber und er konnte Türen unterscheiden, hochlehnige Stühle und einen schweren geschnitzten Tisch. An der Feuerstelle standen zwei Gestalten, die auf ihn warteten: eine alte Frau, die sich auf einen Stock stützte, und ein großer Mann.
    »Willkommen, Will«, sagte die alte Dame. Ihre Stimme war sanft und freundlich und doch hallte sie in dem gewölbten Raum wie eine Glocke. Sie streckte ihm ihre magere Hand entgegen und der Feuerschein fing sich in einem großen Ring, dessen Stein rund wie eine Kugel vom Finger abstand. Sie war sehr klein, zart wie ein Vogel, und obgleich ihr Rücken ungebeugt war und sie sehr beweglich schien, hatte Will, als er sie betrachtete, den Eindruck, dass sie ur-uralt sein musste.
    Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Er blieb stehen und unbewusst fasste seine Hand nach dem Gürtel.
    Nun bewegte sich die hohe Gestalt an der anderen Seite des Kamins, beugte sich vor und entzündete einen langen Wachsstock am Feuer, trat an den Tisch und fing an dort mit dem Wachsstock einen Kranz hoher Kerzen zu entzünden. Das Licht der qualmenden gelben Flamme spielte auf seinem Gesicht. Will sah einen kraftvollen knochigen Schädel, tief liegende Augen und eine stolz gebogene Nase wie einen Falkenschnabel, dichtes drahtiges weißes Haar, das sich über der hohen Stirn sträubte, buschige Brauen und ein vorspringendes Kinn. Und während er in die wilden, geheimnisvollen Linien dieses Gesichts starrte, geschah es, ohne dass er wusste, wie, dass die Welt, die er seit seiner Geburt bewohnt hatte, sich hob und wie in einem Wirbel drehte, in Stücke brach und in einem Muster wieder herunterkam, das nicht mehr das gleiche war wie zuvor.
    Nun richtete sich der große Mann auf und sah ihn über den Kranz der brennenden Kerzen hinweg an. Er lächelte leise, der grimmige Mund hob sich in den Winkeln und feine fächerförmige Runzeln erschienen in den äußeren Winkeln der tief liegenden Augen. Mit einem schnellen Atemstoß blies er den Wachsstock aus.
    »Komm her, Will Stanton«, sagte er, »komm und lerne. Und bring jene Kerze mit.«
    Verwirrt blickte Will um sich. Dicht neben seiner rechten Hand sah er einen schwarzen, schmiedeeisernen Ständer, so groß wie er selber, der drei Arme hatte. Zwei Arme trugen einen fünfzackigen eisernen Stern, der dritte einen Halter, in dem eine dicke weiße Kerze steckte. Will hob die Kerze herunter. Sie war so schwer, dass er beide Hände dazu brauchte. Dann ging er durch die Halle auf die beiden Gestalten zu, die am anderen Ende auf ihn warteten. Als er näher kam, bemerkte er, durch das Kerzenlicht hindurch-blinzelnd, dass der Kranz der Kerzen auf dem Tisch nicht vollständig war; ein Halter war leer. Das glatte Wachs fest mit den Händen umspannend, beugte er sich über den Tisch, entzündete seine Kerze an einer der anderen und steckte sie dann sorgfältig in den leeren Halter. Sie glich den anderen Kerzen genau. Es waren seltsame Kerzen, ungleichmäßig in der Dicke, kalt und hart wie Marmor; sie brannten mit einer langen hellen Flamme ohne Rauch und rochen ein wenig harzig.
    Erst als Will sich wieder aufrichtete, bemerkte er die beiden gekreuzten Eisenarme innerhalb des Kerzenringes. Hier war das Zeichen wieder: das Kreuz

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