Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
innerhalb des Kreises, der gevierteilte Kreis. Er sah jetzt, dass auf dem Ständer noch mehr Kerzenhalter angebracht waren: zwei auf jedem Kreuzarm und einer im Mittelpunkt, wo sie sich schnitten. Aber diese neun Halter waren noch leer.
Die alte Dame setzte sich in den hochlehnigen Sessel neben dem Feuer und lehnte sich zurück. »Sehr gut«, sagte sie freundlich mit der gleichen musikalischen Stimme. »Danke, Will.«
Sie lächelte. Ihr Gesicht überzog sich mit einem Spinnengewebe von Fältchen und Will grinste erfreut zurück. Er wusste nicht, warum er plötzlich so glücklich war, es schien so selbstverständlich, dass man gar nicht danach zu fragen brauchte. Er setzte sich auf einen Schemel, der vor dem Feuer stand und ganz offensichtlich auf ihn wartete.
»Das Tor«, sagte er, »das große Tor, durch das ich gekommen bin. Wie kann es so ganz allein dastehen?«
»Das Tor?«, sagte die Dame.
Etwas an ihrem Ton veranlasste Will, einen Blick nach rückwärts zu werfen, zur Wand mit dem hohen Tor darin und zu dem Leuchter, von dem er gerade die Kerze genommen hatte. Er erstarrte. Das große Holztor war verschwunden. Die graue Wand zeigte keine Unterbrechung, die massiven Quader waren nackt bis auf einen runden goldenen Schild, der einsam hoch oben hing und im Licht des Feuers matt schimmerte.
Der große Mann lachte leise. »Nichts ist so, wie es scheint, mein Junge. Erwarte nichts und fürchte nichts, weder hier noch sonst wo. Das ist die erste Lehre, die du lernen musst. Und jetzt kommt deine erste Übung. Vor uns steht Will Stanton — erzähle uns, was ihm in diesen letzten Tagen begegnet ist.«
Will blickte in die lodernden Flammen, deren Widerschein in dem frostigen Raum warm und wohltuend auf seinem Gesicht lag. Es kostete ihn große Mühe seine Gedanken zu dem Augenblick zurückzuzwingen, wo er mit James von zu Hause weggegangen war, um auf Dawsons Hof Heu zu holen. Heu! Das war erst gestern Nachmittag gewesen. Er grübelte, dachte an all das, was zwischen diesem Augenblick und seinem jetzigen Ich lag.
Schließlich sagte er: »Das Zeichen. Der Kreis mit dem Kreuz. Gestern hat Mr. Dawson mir das Zeichen gegeben. Dann hat der Wanderer versucht mich zu erwischen und nachher haben SIE — wer immer das ist — mich fangen wollen.« Er schluckte, ihn fror bei der Erinnerung an die Angst, die er in der Nacht ausgestanden hatte. »SIE wollen das Zeichen. SIE brauchen es, darum geht es. Darum geht es auch heute, obgleich alles viel verwirrender ist, denn jetzt ist nicht
jetzt,
es ist irgendeine andere Zeit. Ich weiß nicht, welche. Alles ist wie ein Traum — und doch wirklich ... SIE sind immer noch hinter dem Zeichen her. Ich weiß nicht, wer SIE sind. Ich kenne nur den Reiter und den Wanderer. Ich kenne auch euch nicht, aber ich weiß, dass ihr gegen SIE seid. Ihr und Mr. Dawson und John Wieland Smith.«
Er schwieg.
»Weiter«, sagte die tiefe Stimme.
»Wieland?«, Will wunderte sich. »Das ist ein seltsamer Name. Der gehört nicht zu John. Warum habe ich das gesagt?«
»Das Gedächtnis enthält mehr, als die Menschen wissen«, sagte der große Mann. »Besonders dein Gedächtnis. Und was sonst hast du noch zu sagen?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Will. Er senkte den Blick und ließ seinen Finger an der Kante des Schemels entlanglaufen; es waren sanfte, regelmäßige Wellen hineingeschnitzt wie die Wellen eines friedlichen Sees. »Doch. Jetzt weiß ich's. Zwei Dinge. Das eine ist, dass an dem Wanderer etwas Sonderbares ist. Ich glaube nicht, dass er wirklich zu IHNEN gehört, denn er hat sich zu Tode erschreckt, als er den Reiter sah, und ist weggelaufen.«
»Und das andere?«, fragte der große Mann.
Irgendwo im Schatten des weiten Raumes schlug eine Uhr, der Ton war dumpf, als käme er von einer umwickelten Glocke: ein einziger Ton, eine halbe Stunde.
»Der Reiter«, sagte Will, »als der Reiter das Zeichen sah, sagte er: ›Du hast also schon eins.‹ Er hat vorher nicht gewusst, dass ich es habe. Aber er war hinter mir her. Hat mich gejagt. Warum?«
»Ja«, sagte die alte Dame. Sie betrachtete ihn beinahe traurig. »Er hat dich gejagt. Ich fürchte, Will, der Verdacht, den du hast, ist richtig. SIE wollen nicht nur das Zeichen, SIE wollen dich.«
Der große Mann stand auf und trat an die Seite der Dame, seine eine Hand lag auf der Rückenlehne ihres Sessels, die andere steckte in der Tasche der hochgeschlossenen dunklen Jacke, die er trug. »Sieh mich an, Will«, sagte er.
Das Licht vom Kranz
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