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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Die Dateien über das Warschauer Ghetto. Die Dateien, die Informationen über berühmte Zionisten, Autoren oder Künstler enthielten. Aber die übrigen – über Männer, Frauen und Kinder, die nichts getan hatten, das die Geschichte kümmerte, und in den Aussagen nur auftauchten, weil sie Vater, Mutter, verlorener Bruder
oder Schwester oder Cousin von jemandem gewesen waren – diese Leute wurden langsam aus dem Gedächtnis der Menschheit gestrichen, so wie ihre Mörder es beabsichtigt hatten.
    Die Lösung war für Gavi ganz offensichtlich gewesen. Benötigt wurde ein Person. Eine Person, die die unbekannten Toten ebenso schätzte wie die berühmten. Eine Person, die sich an sie erinnerte, weil sie eins mit ihnen war; so wie Cohen – oder zumindest ein verschütteter Teil von ihm – eins mit Hyacinthe war; so wie Rabbi Loews Golem in einem mystischen Sinne eins mit den Leben, der Geschichte und den Seelen der Menschen im Prager Ghetto gewesen war, die ihn zum Leben erweckt hatten.
    Aber dieser Golem sollte nichts Mystisches an sich haben, es sei denn, man sah etwas Mystisches darin, wie ein vernunftbegabtes Bewusstsein aus dem wimmelnden Malstrom von Daten in den Netzwerken einer Emergenten KI hervorging. Gavi kannte den Namen der Magie, die diesen Golem zum Leben erwecken konnte; er hatte über den Spezifikationen, Schaltplänen und Fehlermeldungen gebrütet. Was er brauchte, war nicht Prags kalter Lehm, sondern die kalten Spingitter von Cohens neuralen Netzwerken.
    Natürlich gab es andere KIs mit der nötigen Rechenleistung, um die Aufgabe zu bewältigen. Aber keine davon war auf eine so eigentümliche Art menschlich wie Cohen. Keine andere hatte eine über so lange Zeit stabile Persönlichkeitsarchitektur. Und keine andere war Israel und Gavi selbst so intim verbunden.
    Cohen konnte es schaffen. Er konnte den Archiven Leben einhauchen und tote Aussagen wieder in lebendige Erinnerungen zurückverwandeln – welche Gewalt er damit seiner eigenen Identität antun würde, konnte allerdings kein Mensch auch nur annähernd ermessen.
    Und er würde es tun, wie riskant es auch sein mochte, wenn Gavi ihn darum bat.

    Und eben diese Gewissheit hielt Gavi davon ab, ihn tatsächlich zu fragen.
     
    Als er auf die König-David-Straße einbog, um das letzte Wegstück bis Cohens Hotel zurückzulegen, bemerkte Gavi, dass er verfolgt wurde. Der Junge vermied ganz offensichtlich, ihn anzusehen; der klassische Anfängerfehler eines Amateurs.
    Gavi trödelte vor dem Schaufenster eines Spintronikladens herum, begutachtete die ausgestellte Ware mit größter Aufmerksamkeit, spürte den Rhythmus der Menge, während sie hinter ihm vorbeiströmte, und lauschte dem monotonen Summen der Signale am Fußgängerübergang. Dann sprintete er im letzten Moment, bevor die Ampel umsprang, auf die andere Straßenseite, doch nur um an der nächsten Ecke wieder innezuhalten, auf das nächste Ampelsignal zu warten und die ganze Zeit die Menschenmenge drüben auf verräterische Zeichen wie abgewandte Blicke und plötzliche Richtungswechsel zu beobachten. Dann aber überlegte er es sich anscheinend anders, ging zu dem Laden zurück, trat ein, feilschte fast zehn Minuten um den Preis eines mobilen Uplink-Moduls und ging wieder, ohne etwas zu kaufen. Er schlenderte noch ein paar Häuserblöcke die Straße hinunter, schaute sich emsig die Schaufenster an und wiederholte die Aktion bei einem zweiten Laden.
    Am Ende kam er zu dem Schluss, dass ihn nur ein einziges Team beschattete: ein Paar, ein Junge und ein Mädchen, die ein Stück vor ihm ihre Rolle spielten, und hinter ihm ein junger Mann mit markanten Gesichtszügen. Die drei sahen wie seine Urururgroßeltern aus, die soeben über die äthiopische Luftbrücke eingetroffen waren. Sie waren noch Halbwüchsige, eifrig, aber unbeholfen.
    Er dachte wehmütig an Osnat, die nicht einmal an ihrem ersten Ausbildungstag solche elementaren Fehler gemacht hätte. Aber dann sagte er sich, dass er besser nicht an Osnat
denken sollte, wenn er sich gleich Cohens kritischen Blicken aussetzen wollte.
    Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten stolperten die drei Verfolger durch alle klassischen Anfängerfehler und fanden sogar ein paar neue Varianten. Der Lehrer in ihm hätte sie sich am liebsten vorgenommen, sie am Kragen gepackt und alles noch einmal richtig machen lassen. Aber er war kein Lehrer mehr. Er war eine Zielperson. Eine Zielperson ohne Rückendeckung, Unterschlupf oder eine der üblichen

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