Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
der Rezeption und warten auf jemand, der uns die Kreditkarte zurückgeben kann, und da fällt es mir ein. »Ach du heilige Scheiße«, sagt sie, für eine Sekunde ernstlich erschrocken. Und es ist fast so, als würde das Zimmer vor Wiedersehensfreude kaum an sich halten können, mit aufgebauschten Vorhängen und einer Luft, die uns entgegenstürmt, die uns anstupst. In diesem Seufzer eines Windzugs, der über Judiths Schläfen gleitet, offenbart sich die ganze Melancholie, die wir in dem Zimmer zurückgelassen haben. Ich sehe den Ilja-Kabakov-Band, der neben dem arabischen Tongefäß gestanden hat und auch aus dem Regal gefallen ist und den ich nur gelesen habe, um mit Judith darüber sprechen zu können. Dabei hat mich Kabakov mit seinen komplizierten Installationen, mit denen er das totalitäre System seines Heimatlands ironisiert, auf frappante Weise an Lambert erinnert und wie er mit seinen Eltern und vor allem wie sein Vater mit ihm umgeht. Soll ich mich verabschieden, soll ich der Wohnung auf Wiedersehen sagen? Ich stehe da, minutenlang. Judith nickt, halb grüßend, halb sich verabschiedend, um dann in ihre unnachahmliche, herzzerreißende Mädchenhaftigkeit zu verfallen. »Tschüs Zimmer«, sagt sie. »Tschüs.« Das Motel 6, wo wir die Festnahme von Saddam Hussein im Fernsehen gesehen haben, am frühen Morgen. In immer neuen Wiederholungen auf CNN, wie ein Gedicht, das man als Schüler auswendig lernen muss. Sie legt den Kopf zurück, lächelt und sagt nochmal: »Tschüs«, während sie vorsichtig zurückweicht, so als hätten wir in diesem Moment von der Existenz einer dritten Person, tatsächlich von der Existenz eines Kranken im Zimmer erfahren, den man nicht stören darf. »Tschüs«, sagt sie. »Tschüs« oder »Goodbye«. Vor allem, wenn wir im englischsprachigen Ausland sind. Niemals sagt sie auf Wiedersehen. Sie sagt höchstens: »Wir müssen dem Zimmer noch auf Wiedersehen sagen«, aber dann, wenn es so weit ist, heißt es immer nur »Tschüs« oder »Tschüs Zimmer«. Wir verabschieden viele Zimmer. Auch wenn es hässliche oder schlechte Zimmer sind. Wir verabschieden sie. Unser Zimmer im Motel 6 ist ein düsteres enges Loch, in dem es so heiß ist, dass wir mitten in der Nacht die Tür öffnen, dann aber aus Angst, überfallen zu werden, wieder schließen. »Tschüs. Goodbye.« Als würde das Zimmer kein Deutsch verstehen. Sie macht keinen Unterschied zwischen dem quälend dunklen schlauchartigen Zimmer in Berkeley, als wir zum ersten Mal ihre Tante besuchen, zu dem sie »Tschüs, alles Gute« sagt und den lichtdurchfluteten, paradiesischen Räumen in einem Hotel in der kalifornischen Wüste auf unserer Reise kurz nach Silvester. »Tschüs Zimmer.« Sie sagt es erst, als wir schon gar nicht mehr im Zimmer sind, sondern draußen auf dem asphaltierten Vorplatz neben dem Pool, man das Zimmer und sein großes, das Sonnenlicht reflektierende Panoramafenster aber noch sehen kann. Bei dieser Reise kehrt sie nicht in das Zimmer zurück. Zum ersten Mal. Es ist noch gar nicht so lange her. Wenn sie nicht so diskret wäre, würde sie aus der Ferne rufen: »He, Zimmer!« Obwohl ich sie in diesem Moment darauf aufmerksam mache und sie darauf hinweise, dass wir es vergessen haben. Und bin nicht in Wirklichkeit ich derjenige, der in solchen Momenten fürsorglich und weitblickend ist? Sie tut dagegen so, als würde das schon ausreichen, als wäre das schon genug. Der vordere Raum befindet sich vollständig im Licht, blickt auf die bronzefarbene, glühende Wüstenlandschaft, während der hintere Raum in einem dezenten Schatten liegt, mit seinen auf Schienen montierten Schlafzimmertüren, die lautlos vor- und zurückrollen. Die braungelb gepunktete 70er-Jahre-Couch. Der durchsichtige Plastiktisch mit einem Ensemble blauschwarzer Steine. Das Zimmer offenbart uns sein kostbares Interieur, erlaubt uns, ein letztes Mal einen Einblick in das Leben, das wir dort geführt haben, auch wenn es nur eine Nacht gewesen ist. »Goodbye. Tschüs.« Judith winkt dem Zimmer zu. Mit zurückgenommener Grazie, den Finger leicht abgespreizt, den Kopf schon halb weggedreht, bereit einzusteigen in den blauen Chevrolet Camaro, den wir uns von ihrer Tante ausgeliehen haben. »Goodbye.« Ich bleibe stehen, protestiere, denke, sie ist doch nachher wieder traurig, sie ist doch nachher wieder wehmütig gestimmt. Im Anza-Borrego Desert State Park, im Motel 6, in Palm Springs, im Schlafwagenabteil des Nachtzugs nach Paris, als wir Kyra besuchen,
Weitere Kostenlose Bücher