Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Pet-Shop-Boys-Klassikers zu übertönen. »Sie ist eine phantastische Frau. Mal unter uns. Ich würde keine Sekunde zögern und wenn es sein müsste, ich würde nach Washington schwimmen.« Einer der Darsteller, die auf dem Podest jetzt langsam auf und ab gehen, schaut in diesem Moment zu uns herüber, oder ich bilde mir das jedenfalls ein. »Ja, natürlich«, sage ich, schreie ich, während Mads Christiansen sich halb den Tanzenden zuwendet. »Das weiß ich doch.« Was will er mir denn damit sagen? Was möchte er mir damit zu verstehen geben? Soll ich nach Washington schwimmen? Er macht ein paar Bewegungen, dreht sich und wippt etwas nach vorn, und schon im nächsten Moment ist er in einer Woge aus tanzenden Zuschauern verschwunden. Ich versuche ihm zu folgen, in die ineinander verschlungenen durchtrainierten Körper der Tanzenden hinein. Er hat sein schwarzes Seidenhemd ausgezogen und ist in seinem hautengen Unterhemd kaum noch von den anderen zu unterscheiden. Auch die Darsteller auf dem Podest fangen zu tanzen an. Bis ins kleinste Detail ihrer aufreizenden Fetischkleidung ähneln sie ihren Abbildern auf den Flyern, die überall herumliegen und die wiederum identisch mit ihren Autogrammkarten sind, die später unter Deck verteilt werden. Einer von ihnen, der zu uns herübergeschaut hat, hebt die Arme und klatscht rhythmisch zur Musik. Er heißt Manuel Torres. Ich habe sein Foto schon gesehen. Er trägt eine Schirmkappe aus Leder, die er aber in diesem Moment absetzt und vor sein Geschlechtsteil hält. Mit seinen schweren Military-Stiefeln macht er einen kleinen Ausfallschritt, während sein Nachbar, ein schlanker jungenhafter Schwarzer, die Arme über den Kopf hält und seine Lippen zu einem übertriebenen Kussmund formt. Einige aus dem Publikum applaudieren, aber die meisten schauen gar nicht hin und sind mit sich selbst beschäftigt. Alle sehen so aus, als würden sie Tag und Nacht Sport treiben und sich ausschließlich mit der Perfektionierung ihres Aussehens beschäftigen. Ihre Körper sehen wie Dienstboten aus. Dienstleistungskörper, in die sie hineingekrochen sind, wie in eine transzendentale Uniform. Plötzlich scheinen Blitzlichter auf. Manuel Torres verschwindet aus meinem Blickfeld und wird von hellen magnesiumfarbenen Lichterflammen eingehüllt. Ich schaue mich nach Mads Christiansen um. Er ist nicht da, er ist nirgendwo. Wäre ich doch an Land geblieben. Es ist so heiß, dass ich kaum atmen kann.
Ich versuche, mich zur Reling durchzukämpfen. Die Männer tanzen immer ekstatischer, während das Schiff immer langsamer wird. Mehrmals habe ich den Eindruck, das Schiff bleibt stehen und fährt gar nicht mehr weiter. Ich zwänge mich zwischen den Tanzenden hindurch auf die andere Seite. Judith setzt sich das Vampirgebiss in den Mund. Ich werde nie erfahren, wie sie es geschafft hat, es sich zwischen die Lippen zu schieben, ohne dass ich davon auch nur das Geringste bemerke. Hat sie das Gebiss in der Tasche versteckt oder in einem unbeobachteten Moment in einer Geschenkboutique im Flughafen gekauft? Ich kann Mads Christiansen nirgendwo sehen. Das ist das Prinzip. Wir nehmen Abschied, wenn schon nicht von uns selbst, so doch von den Orten, den Räumen, den Häusern unserer Zweisamkeit. Ich stehe im Türrahmen, im Wohnzimmer und starre auf den Wecker. Ich habe nur noch ein paar Minuten, dann muss ich New York verlassen. Ich denke darüber nach, ob ich mich von der Wohnung verabschieden soll. Das ist zumindest der Gedanke, der mir durch den Kopf geht. Verabschiede dich von der Wohnung, sage ich mir. Immer, wenn ein solcher Moment bevorsteht und wir ein Hotelzimmer, in dem wir übernachtet haben, verlassen, sagt Judith: »Goodbye«, oder sie sagt: »Goodbye, Zimmer. Auf Wiedersehen.« Oder: »Bye bye.« Sie variiert es ein bisschen, aber es ist immer eine Spur Wehmut dabei. Sie hebt die Hand und winkt den geöffneten Fenstern und zurückgeschlagenen Bettdecken zu. Sie schaut noch einmal kurz hinein, widmet dem Zimmer noch einmal einen Blick. Es ist eine Inszenierung, die sie meisterhaft beherrscht. Sie spielt ein Mädchen, kurz davor in Tränen auszubrechen, sich seiner Reife aber bewusst. In dem Bedürfnis, lässig und elegant zu wirken, hält sie ihre Trauer in dieser kindlichen Formulierung »Tschüs, auf Wiedersehen« zurück. Es ist ein Ritual, das wir beide lieben. Einmal, in einem Hotel in Palm Springs, sage ich zu ihr, dass wir vergessen haben, dem Zimmer auf Wiedersehen zu sagen. Wir stehen schon an
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