Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
deswegen zu der Schiffstour mitnimmt, weil er mir vorführen will, wie beliebt er ist. Wenn er ein neues Buch schreibt, schließt er sich immer mehrere Wochen ein und unterwirft sein Leben einer martialischen Disziplin. Seinen Schlaf-Rhythmus ändert er so, dass er alle drei Stunden eine halbe Stunde schläft, um danach wieder drei Stunden arbeiten zu können. Bei diesem Rhythmus hat er sich angeblich von einem Weltumsegler inspirieren lassen, der sich natürlich keine längeren Schlafpausen erlauben kann. Aber in Wirklichkeit ist dieses Programm, wie ich zufällig weiß, eine exakte Kopie der grausamen und familienverachtenden Arbeitswut seines Vaters, der sich mit fünfundvierzig Jahren das Leben genommen hat, weil sein Kopenhagener Unternehmen, das Schaltkreise produziert hat, plötzlich pleitegegangen ist. »Es ist wie auf hoher See«, sagt Mads Christiansen zu dem Schnauzbärtigen, der die ganze Zeit um ihn herumscharwenzelt. »Es ist eine Frage der inneren Haltung, aber auch eine Frage der Leidenschaft.« Der Schnauzbärtige grinst mich an. Ich flüchte mich auf die Toilette. Ich wasche mir die Hände unter einem mickrigen lauwarmen Wasserstrahl und halte sie so lange unter den Trockner, bis ich mir sicher sein kann, dass er nicht mehr da ist.
Immer neue Gäste kommen, immer mehr Freunde von Mads Christiansen und schließlich auch sein Co-Autor, dessen Texte Mads Christiansen immer so lange überarbeitet, bis sie klingen wie seine eigenen. Er trägt einen schwarzen Anzug und ein Barett und fällt damit völlig aus der Rolle. Ich habe das Gefühl, alle sind in ständiger Bewegung, um sich miteinander bekannt zu machen, obwohl es dann doch so scheint, als würde jeder jeden kennen. Das Schiff besteht aus zwei Etagen. Einem unter Deck gelegenen Raum mit Bullaugen und dem mit einer Plane zum Himmel hin abgeschlossenen Oberdeck, auf dem der größte Teil der Veranstaltung stattfindet. Zwei Treppen verbinden die Räume miteinander, und es gibt ein kleines Zwischendeck, auf dem man unter freiem Himmel steht und die beste Sicht hat. Wir umkreisen die Freiheitsstatue, und auf dem Zwischendeck drängen sich die Gäste mit vollen Papptellern, um das zu sehen, was sie schon kennen. Das Buffet ist von großzügiger Lieblosigkeit. Unglaubliche Mengen von Hähnchenschenkeln, gebackenen Kartoffeln und Berge von Nudelsalat lassen sich miteinander kombinieren. Ich brauche eine halbe Stunde, bis ich endlich nach oben gehe, wo, wie Mads Christiansen sagt, »die Musik spielt«. Mads Christiansen hat die Fähigkeit, alles auszublenden, was ihn nicht weiterbringt. Selbst die Tatsache, dass er nichts von Beziehungen versteht und sich darüber eigentlich kein Urteil erlauben kann. »Du kannst doch nicht hingehen und an ihrer Promotion herumfummeln«, sagt er einmal, als wir bei seinem Besuch in München am Abend noch im Café sitzen und ich ihm erzähle, ich hätte ein paar Kapitel von Judiths Arbeit gelesen. Mads Christiansen behauptet, dass man in Beziehungen hundertprozentig loyal sein müsse und dass er genau deswegen auch keine habe. »Du schreibst, es seien Halbnomaden, aber du definierst das überhaupt nicht«, sage ich zu ihr. Ich mache Vorschläge, wie man die Gliederung ändern könnte. Sie behauptet, sie habe das alles im Kopf. »›Die moralische Geografie Darfurs‹, das finde ich schön, aber ich glaube, es ist ein Zitat, und dann musst du … « Sie schaut mich wütend an. Oder: Sie schaut mich so an, dass ich nicht anders kann, als zu denken, sie sei vielleicht wütend. »Was meinst du mit moralischer Geografie, was ist daran moralisch?« Ich verstehe nicht das Geringste von Darfur. Ich weiß nicht mal, wo es liegt. Ich lege die Überreste des arabischen Tongefäßes wieder ins Regal, schreibe eine Nachricht an Michael und Janette und lege zwanzig Dollar auf den Tisch. Ich habe vielleicht noch eine halbe Stunde. »Ich würde ›transhuman‹ oder ›Halbnomade‹, ich würde das definieren. Das kannst du in einer Fußnote machen«, sagte ich zu ihr. Ich verbringe einen ganzen Sonntag auf einem Schiff mit schwulen Männern, die darauf warten, dass eine Pornofilm-Produktion ihre Darsteller präsentiert. Hat es mit meiner Kritik zu tun, dass sie das Thema kurze Zeit später aufgibt? Beendet sie deswegen ihre Karriere als Ethnologin und fängt ein Praktikum bei der Robert Kennedy Stiftung an? Ich gehe mehrmals zum Buffet, um dem Gespräch mit Mads Christiansen auszuweichen. Ich frage mich, ob ich mich auffällig verhalte,
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