Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
in der Art, wie ich esse, wie ich das Fleisch mit der Plastikgabel von dem Knochen abzuschaben versuche. Neben mir stehen zwei Männer, die mit ihren Hosenträgern über ihren T-Shirts wie erschöpfte Komödianten aussehen und ihre Zweisamkeit so sehr zelebrieren, dass ich wegschauen muss. Die abgenagten Hähnchenschenkel auf meinem Teller sehen wie ein Kruzifix aus, und ich überlege, wie ich den Teller wieder loswerden kann und ob ich ihn nicht einfach ins Meer werfen soll. Judith wirft auf Reisen ihren Müll nicht einfach so weg. Ich erinnere mich, wie wir einmal eine Cola-Dose von einer sizilianischen Insel bis nach München transportiert haben, nur damit sie sie am Morgen nach unserer Ankunft in unsere gelbe Wertstofftonne werfen kann. Und natürlich spült sie die Cola-Dose noch auf der Insel gründlich aus. Als könnte sie schlecht riechen. Wie könnte ich da einen fettigen Pappteller mit einem Hähnchenkruzifix einfach ins Meer werfen? Aber es gibt keinen Mülleimer, alle halten die Pappteller in ihren Händen und schauen auf die Freiheitsstatue. »Sie wartet doch auf dich«, sagt Mads Christiansen. Seine fast lüsterne Art, sich in mein Beziehungsleben einzumischen. Ich schaue auf den Pappteller, auf dem die Hähnchenschenkel wieder verrutscht sind und das »Kreuz« auseinanderzufallen droht. Soll ich ihn die ganze Zeit mit mir herumtragen? »Das Meteoritengestein ist verglüht«, heißt es in Mads Christiansens Buch über Evolutionsmanagement, »aber durch den Einschlag hat sich das vorhandene Gestein in der Umgebung so verändert, dass man noch immer Spuren finden kann. Wie geht man mit Einflussfaktoren um, die nicht planbar sind. Wie bereitet man sein Unternehmen darauf vor?«, lautet die »Transferfrage«. Das Buch steht in meiner Praxis, aber ich habe kaum darin gelesen, obwohl ich ihm gegenüber immer so tue, als würde ich es genau kennen. Ich kann schließlich nichts anderes machen, als den Teller in einem unbeobachteten Moment zur Seite zu kippen und ganz unauffällig ins Wasser fallen zu lassen. Der Aufprall ist lautlos, der Teller treibt ab, und ich fange den versonnenen Blick eines gebräunten Schönlings auf, der sich am Geländer der nach oben führenden Treppe festhält. Wehmütig schaut er dem Teller hinterher. Ich grinse ihn an, entschlossen, nicht das Geringste zu meiner Entschuldigung vorzubringen, aber in diesem Moment merke ich auf einmal, wie sehr mich der Anblick des davontreibenden Tellers aus dem Gleichgewicht bringt. Ein Teller, den Judith zweifellos nicht im Stich gelassen hätte. Er treibt davon, langsamer, als ich es gehofft habe. Plötzlich ist die gesamte Gruppe der an der Reling stehenden Gäste auf ihn aufmerksam geworden. Aber der blonde Schönling verrät mich nicht. Sein Blick ist von einer gewissen Traurigkeit. Er ignoriert mich, den Blick fest auf den Teller gerichtet, der als weißer, strahlender Kreisel im brackigen Grau des Wassers außer Sicht gerät. Ich denke noch eine ganze Weile, und ich denke es ohne die geringste Ironie, ohne den geringsten Sinn für die Komik, die in dieser ganzen Episode liegt: »Wie um Gottes willen konnte ich ihr das antun?« Und ich schreibe es sogar später in mein Notizbuch: Wie konnte ich ihr das bloß antun. Wie um Himmels willen? Der schneeweiße immer kleiner werdende Pappteller, der immerhin, ein schwacher Trost, jetzt Richtung Manhattan treibt, wo irgendjemand, der Judiths Seele wirklich gewogen und ihr ein wirklicher Begleiter und Liebender ist, am Ufer steht und den Teller aus dem Wasser zieht, ihn reinigt und seiner Bestimmung zuführt. Ich verliere ihn immer mehr aus den Augen. Und je länger ich hinschaue, desto mehr scheint es mir, er könnte auseinanderfallen, in zwei ungleiche Hälften, und er würde eine große Leere hinterlassen.
Das Schiff bewegt sich schwerfällig, ein fülliger Bauch über glattgezogenen schwarzen Wellen. Ein dunkles Bett, auf dem sich das Mondlicht hebt und senkt. Das Suchen und Flanieren lässt langsam nach. Jeder hat jetzt jeden gesehen, und in der aufkommenden Dunkelheit kann man ohnehin nicht mehr viel erkennen. Mads Christiansen schaut zu den drei Darstellern, die auf einem Podest stehend ihre spärlich bekleideten Körper vorführen. Er legt seine Stirn in Falten, soweit Mads Christiansen seine Stirn in Falten legen kann. Wir stehen unter der Plastikplane, die das Oberdeck überspannt. »Weißt du was?«, fragt er, und er muss schon etwas lauter sprechen, um das Intro eines alten
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