Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
die bei einer EU-Behörde ein Praktikum macht. Selbst in diesen karg gepolsterten Räumen mit ihren an Krankentragen erinnernden Schlafliegen flüstert sie: »Tschüs.« Immerhin nennt sie das Schlafwagenabteil nicht Zimmer. Aber beim Abschied aus dem Hotel in der kalifornischen Wüste dreht sie den Kopf weg. Sie geht nicht mehr zurück, sie winkt dem Zimmer nur zu. Welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus? Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich zwei Stunden vor Abflug am Flughafen bin, reicht es bestimmt aus. Als wir die Wohnung verlassen und zu unserem Spaziergang aufbrechen, frage ich mich nicht, ob sie sich von der Wohnung verabschiedet, in der ich noch bleiben werde, nachdem sie schon weggefahren ist, zu der sie aber nie zurückkehren wird. Sind die Fenster zu? Der Ventilator ausgeschaltet? Ich gehe noch einmal durch die ganze Wohnung. Ich laufe hin und her, bleibe vor der orangenen Couch im Wohnzimmer stehen. Ich antworte dem sehnsüchtigen Bedürfnis des Zimmers nach einer Verabschiedung mit nichts anderem als mit einem langen Schweigen. Ich schaue auf den Ein-Dollar-Wecker. Er ist klein und rot und passt eigentlich nicht zu der Wohnung. »Tschüs. Goodbye«, sagt Judith. »Tschüs. Zimmer.« Tschüs, auf Wiedersehen. Bis bald.
5
Irgendwo muss Mads Christiansen sein, irgendwo zwischen den Tanzenden. Vielleicht vor dem hölzernen Podest, über dem in Großbuchstaben auf mehreren Plakaten Wicked Pictures steht und darunter die Namen der Darsteller. Die Tanzenden auf dem Schiff reißen die Arme hoch. Jack Sanders hat erst in fünf Filmen mitgespielt, während Manuel Torres schon bei zwanzig dabei gewesen ist. Seine Lippen ragen merkwürdig hell und verletzlich aus seinem Gesicht, er macht eine Drehung um seine eigene Achse. Er hat die meisten Zuschauer, während die Traube, die sich zuvor noch um den Holzfäller-Körper von Micky Powers gebildet hat, jetzt zu Jack Sanders abgewandert ist. Manuel Torres ist ein kleiner, stämmiger, stiernackiger Mann, der aber, wie ich von Mads Christiansen weiß, der eigentliche Star des Abends ist und jetzt, so kommt es mir zumindest vor, nach seinem halb erigierten Geschlechtsteil wie nach einem Lasso greift und es ein bisschen schüttelt. Oder müsste man sagen, zu zügeln versucht? Ich versuche zur anderen Seite zu kommen, aber es ist kein Durchkommen. Judith setzt sich das Vampirgebiss in den Mund. Wie schafft sie das, ohne dass ich es merke? Hat Kyra es ihr gegeben? Oder hat sie es doch unterwegs gekauft? Ich kann Mads Christiansen nirgendwo finden. Auf einmal muss ich an Gabriela denken. Ich sehe, wie Manuel Torres einem Mann mit einer kleinen Digitalkamera zulächelt, der vor ihm auf die Knie geht, während Torres sich in Pose stellt. Das Lächeln von Gabriela. Die Mittagspausen in ihrem Auto, in dem künstlichen Dämmerlicht des unterirdischen Parkhauses, ganz in der Nähe der Frauenparkplätze. Ihre dunkle Haut, ich muss immerzu an den Ausdruck dunkelgebeizt oder ebenholzfarben denken. Und wie sie sich an der großen Metalltür der Tiefgarage festhält. Die Gedanken an Gabriela. Rohe, ungestüme, zirkuläre Gedanken. Morgens bei einem kurzen Halt auf dem Weg in meine Praxis. Gedanken eines Chirurgen, der kurz vor der Operation steht. Und Gabriela, die sich mir nicht hingibt, sondern bei unseren Zärtlichkeiten immerzu protestiert. Ihr Lachen, als ich mich über sie beuge und sie mit verbalen Liebkosungen überschütte. An manchen Tagen fahre ich rechts ran, um diese Gedanken auf mich wirken zu lassen, als hätte ich gerade eine Nachricht empfangen oder müsste ein dringendes Telefongespräch führen, dabei habe ich mein Mobiltelefon absichtlich zu Hause gelassen, damit mich Judith nicht erreicht. Auf dem Seitenstreifen, in einer Parkbucht, höre ich in mich hinein, in der Hoffnung, meine Imagination würde noch intensivere Erinnerungen zutage fördern. Wie Gabriela und ich in ihrem silbernen Mitsubishi im Parkhaus in der Nähe der Fünf Höfe sitzen, und wie ich mit aller Kraft ihren Widerstand zu überwinden versuche, den sie mit der Lüsternheit, zu der sie fähig ist, aufrechterhält. Manchmal, in einer dieser zahllosen Mittagspausen, ich verlasse meine alte Praxis, die ich damals nur stundenweise gemietet habe, und Gabriela verlässt ihre kleine Schmuckboutique in den Fünf Höfen, erfasst mich eine große Müdigkeit, sodass ich auf ihrem halb entblößten Oberkörper beinahe zusammenbreche und aufgebe. Ich flüchte mich in poetische Beschwörungen ihrer Brustwarzen,
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