Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Moment bleibt sie vor dem verbarrikadierten stockdunklen Laden stehen, während ich erzähle, wie die Kinder der Besitzer einem die Einkäufe immer in Plastiktüten packen und dann sogar noch bis zur Straße tragen. Tagsüber reiht sich hier ein Geschäft an das andere, und in der Nacht taucht dann auf einmal zwischen all den heruntergelassenen Rolltoren eine kleine Bar auf, die Blue Mountain heißt. Unter normalen Umständen würde sie ihr gefallen, aber sie will noch nicht mal ihren Cocktail austrinken und versinkt in dem großen Sessel neben der Fransen-Stehlampe, die direkt am Fenster steht. »Und wo ist jetzt deine Wohnung?«, fragt sie. Sie versucht mit aller Kraft den Eindruck zu erwecken, als würde sie den Abend genießen. Wir laufen durch New York. Wir laufen durch die Hitze. Den ganzen nächsten Tag, als hätten wir nichts Besseres zu tun. Und ich denke in diesem Moment, dass Judith doch ein ganz anderer Mensch ist als Gabriela und dass man sie kaum miteinander vergleichen kann und es auch keinen Sinn macht, es immer wieder zu tun. Wenn Gabriela etwas nicht gefällt, wird sie sofort wütend, während Judith immer ganz ruhig bleibt. »Da oben«, sage ich und zeige auf den dritten Stock. Es ist ein Witz. Wir verbringen nur eine Nacht zusammen. Judith trinkt den Cocktail aus, aber nur weil ich sie darum bitte. Sie leert das Glas in einem Zug, und das wiederum ist etwas, das Gabriela nie tun würde.
Plötzlich ergraut und verhärtet sich alles. Die zerrissenen Fliegengitter vor den Fenstern. Die wackeligen Regale, die mit Industrielack angestrichen sind. Das enge klaustrophobische Bad, dessen Eingang direkt neben dem Elektroherd liegt. New York ist an diesem Tag diesig und schwermütig. Alles hält die Luft an, bevor die Hitze ihren Höhepunkt erreicht. Mein Flug geht in drei Stunden, aber ich habe die Wohnung noch immer nicht aufgeräumt. Direkt neben dem Bett vor dem zubetonierten Kamin auf einem großen Stapel mit Ausgaben der Zeitschrift n+1 steht der Wecker. Der Alarm ist auf sieben Uhr gestellt. Als wäre das eine Formel, eine Zustandsbeschreibung. n+1. Als könnte das Glück bringen. Aber ich bin schon eine Stunde früher aufgestanden. Ich sage zu ihr: »Wollen wir nicht spazieren gehen? Wollen wir uns nicht New York anschauen?« Wenn sie in München am Wochenende tanzen gehen will, ist ihre Vorfreude immer so groß, dass ich schon allein deswegen mitkomme, um zu erleben, wie glücklich sie ist. Sie schaut auf die Speisekarte. Es fängt alles ganz normal an. »Wie sieht sie denn aus?«, fragt sie, als würde sie eine ganze Woche bleiben. Sie sagt: Deine Wohnung. Sie gehört Michael und Janette. Es ist allenfalls »unsere« Wohnung, zumindest an diesem Wochenende. Es ist ihre Spezialität, ihr intuitives Verständnis von Zeiträumen, in denen sich unser Schicksal verengt und sich meine Unfähigkeit, schnell zu reagieren, so zuspitzt, dass ich am nächsten Tag vier Meter vor der elektrischen Schiebetür des Port Authority Bus Terminals, kurz bevor sie nach Washington zurückfährt, auf einmal alle Kommunikationsfähigkeit verliere und minutenlang gar nichts mehr sage. Dabei fahre ich nicht mit, dabei steige ich gar nicht in den Bus ein. Eine Frage drängt sich mir in diesem Moment auf, während ich in der Küche vor dem Regal stehe und überlege, ob der Staub, der sich wie ein Schleier über das arabisch aussehende Tongefäß gelegt hat, von mir stammt und wie er sich während meiner Anwesenheit dort so schnell gesammelt hat. Nämlich die Frage: Hat ihr die Stadt etwa nicht gefallen? Ist sie von New York enttäuscht? Ihre Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz, als wir vor dem kleinen Haus mit der Wellblechfassade stehen, in dem Michael und Janette wohnen. Während wir noch auf dem Weg zur Wohnung die ganze Zeit über das Buch, das Kyra ihr geliehen hat, sprechen und ich das Gefühl habe, sie würde mich mit einem ihrer Akademiker-Freunde verwechseln, ist sie jetzt auf einmal ganz übermütig und verspielt. Es ist etwas, das ich schon einmal einem Klienten erklärt habe, als es darum geht, eine traumatische Erfahrung zu bearbeiten, und ich ihm sage, dass man solche Erinnerungsräume sehr wohl noch einmal betreten könne und dass man dabei selbst entscheiden kann, wie lange man in ihnen verweilt, und dass man auch das Recht hat, diesen Raum für sich anders zu gestalten und zu verändern, sofern es dem eigenen psychischen Gleichgewicht dient. Als es bei meiner letzten Stunde mit Lambert zu einer
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