Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Highway. »Was soll denn passieren, wenn Sie sie ansprechen«, frage ich Lambert am Anfang der Stunde, als noch alles ganz harmonisch verläuft. Er schüttelt fast gönnerhaft den Kopf. »Aber deswegen frage ich Sie doch«, sagt er. »Ich dachte, Sie könnten mir einen Rat geben.« Das Mädchen, das jeden Morgen an der Trambahnhaltestelle in der Paradiesstraße steht und nach Vanille riecht. »Das müssen Sie schon selbst wissen«, sage ich. »Diese Entscheidung kann ich Ihnen nicht abnehmen.« Die Kälte ist schneidend und trocknet die Sinne aus. Die Klimaanlage in Annas Schlafzimmer macht einen solchen Lärm, dass man die kleinen Seufzer, das Räuspern und das zurückgenommene und tastende Atmen nicht mehr hören kann. Geräusche, die verschwunden sind, als ich den eiskalten Raum betrete, in dem der Chatroom, dessen pastellfarbene Grafik auf dem Computerbildschirm leuchtet, wie ein improvisierter Gerichtssaal erscheint, irgendwo in einem luftleeren, ausschließlich elektronisch definierten Raum, jenseits der Weltgemeinschaft, jenseits der Vereinten Nationen, in die Judith so gerne aufgenommen werden würde. »Bitte«, sage ich zu Anne. »So geht das nicht. Dann lassen wir es lieber gleich bleiben. So kann ich das nicht tun.«
Wir sprechen nicht über Sex. Wir umgehen das Thema, oder wir überspringen es. Nur auf Autofahrten, wenn wir unterwegs sind, sprechen wir darüber. Vor allem am Anfang unserer Beziehung. »Ich fühle mich komisch, weil ich noch nicht so viel erlebt habe«, sagt Judith einmal auf der Fahrt nach San Diego, als wir ihre Tante in ihrem neuen Haus besuchen. »Was meinst du denn damit?«, frage ich, aber dann verpassen wir die Abfahrt und kommen auf das Thema nicht mehr zurück. Wie erinnert man sich? Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. Nacht für Nacht. In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment, der Augenblick, nach dem ich schon die ganze Zeit suche. Die Nacht ist vorbei. Ich kehre ins Hotel zurück. Nach drei Stunden Selbstvergewisserung und Selbstbefragung. »Es liegt jetzt ganz an dir, wie diese Fahrt verläuft«, sage ich zu mir, während ich die Lobby des Hotels betrete und mir darüber klar werde, dass wir, auch wenn es schon halb zehn ist, noch anderthalb Stunden Zeit haben, um miteinander zu schlafen. Judith steht neben dem Bett. Fertig geschminkt, herausgeputzt und dreimal so schön wie Anna und Anne zusammen. So endet Baltimore. Oder so fängt Baltimore an. In Wirklichkeit ist Anne gar nicht so schön. Dazu muss ich nicht zwei Stunden E-Mails mit ihr austauschen, müssen nicht Hunderte von Nachrichten zwischen Williamsburg und Greenpoint, zwischen dem heißen, stickigen Schlafzimmer von Michael und Janette und dem kühlen, düsteren Schlafzimmer von Anna und Anne ausgetauscht werden. Wir haben keinen Sex gehabt. Jedenfalls nicht in Baltimore. Ich kann noch so oft auf die Uhr schauen, die Wahrscheinlichkeit, den Flug zu verpassen, eine Möglichkeit, die in meinem Leben eigentlich undenkbar ist, nimmt zu. Der bernsteinfarbene Fernsehbildschirm. Der Pay-per-View-Kanal. Der Augenblick, als wir ins Zimmer kommen und noch nicht einmal mehr die Kraft haben, den Fernseher einzuschalten. Judith schminkt sich. »Es geht nicht, tut mir leid«, sage ich zu Anne. »So macht das keinen Sinn.« Sie hat sehr kleine Brüste. Es ist gegen jede Vereinbarung, Ausdruck einer gescheiterten Kommunikation. »Möchtest du die Brüste von Anna sehen?«, fragt Anne. Anna sitzt im Schlafzimmer, den Samtumhang über die Rückenlehne des höhenverstellbaren Bürostuhls gelegt und chattet mit einem älteren Mann, einem Rentner in Polen, wie Anne mir später erzählt. Anna ist doppelt so alt wie Anne, zumindest kommt es mir so vor. »Möchtest du?« Ich spüre ihre Verletzung, ihre Demut in ihrem halb angemalten, halb inszenierten Gesicht. Ihre Brüste sind zwei rosagraue Knöpfe auf einem weißen mit Muttermalen gesprenkelten Oberkörper. Sie bietet mir ein Glas mit Melonenlimonade an. Ich schüttele den Kopf, und sie stellt das Glas auf der Kommode ab. Der Raum wirkt weniger wie ein Schlafzimmer, eher wie ein Büroraum, obwohl das Schlafsofa schon ausgeklappt ist. Mehrere türkisfarbene Handtücher sind so darauf ausgebreitet, dass die Liegefläche ganz verdeckt ist. Uns den Rücken zugewandt, tippt Anna etwas in den Computer. Sie schreibt mit Zehnfingersystem, was mich
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