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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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aus unerfindlichen Gründen wieder erregt. »Sie zeigt sie dir«, sagt Anne. Ich weiß nicht, wie das vonstatten gehen soll und ob ich es riskieren will, mich darauf einzulassen. »Es geht nicht«, sage ich leise zu Anne. »Es hat nichts mit dir zu tun.« Anne schaut mich an, die Muttermal-Landschaft unter ihrem Kinn, wie das Ergebnis einer künstlerischen Anstrengung, die auf rührende Weise schiefgegangen ist. »Ich lecke sie«, sagt sie. »Wie bitte?« Ich schaue sie verständnislos an, obwohl ich genau verstanden habe, was sie gesagt hat. Ich versuche, Zeit zu gewinnen, bis sich Anna umdreht und bis sich der große Bürostuhl mit den ledernen Armlehnen in Bewegung setzt und mir offenbart, für was ich noch gar nicht bezahlt habe. Das ist es, was ich mir in diesem Moment sage: Du hast noch nichts bezahlt, keinen Cent. Ich bekomme Kopfschmerzen. Ich erkenne endlich, dass mein Leben, meine gesamte Existenz sich auf einmal in nichts auflöst und sich von mir verabschiedet.

4
    Judith hat manchmal die Phantasie, dass ihre ganze Familie stürbe und sie dann ganz allein auf der Welt wäre. Irgendein Unglück würde passieren und alle wären tot. Ich halte es für eine Phantasie, die man nicht so ernst nehmen muss. Judith liebt Science Fiction, besonders postapokalyptische Literatur, obwohl wir schon ein paar Mal darüber diskutiert haben, was postapokalyptisch genau heißt. Ob J. G. Ballards The Drowned World postapokalyptisch ist, wenn gar nicht klar ist, ob vor der Überschwemmung der Erde überhaupt eine Katastrophe stattgefunden hat. Judith behauptet, es ginge allein um die Atmosphäre, und man müsse nicht wissen, was genau passiert sei. Ich selbst komme in diesen Phantasien nicht vor. Vielleicht weil sie meine Anwesenheit als gegeben voraussetzt oder weil sie, wie ich manchmal glaube, sich danach sehnt, dass wir beide als Einzige auf der Welt zurückbleiben und uns bis ans Ende unserer Tage lieben werden. Manchmal beobachte ich sie bei ihren Einkaufstouren, wenn sie mit lasziv ausgestreckter Hand über die Auslagen in einem Geschäft, über die rosafarbenen Türmchen gefalteter Wollpullover fährt, ihre Hand schlaff und nachgiebig, in ihrer ganzen Haltung so verträumt, als sei sie eine Prinzessin. Denkt sie, ihr gehöre das alles, sie könne das alles so ohne weiteres besitzen? Ist das der Traum, den sie träumt? Allein auf der Welt, in einem Zustand süßer Traurigkeit, nachdem um sie herum ihr zu Ehren alles vernichtet worden ist. Ein Buch, das wir zusammen gelesen haben, endet damit, dass eine Gruppe von Menschen, die eine große Katastrophe überlebt hat, eine Nachricht ins Weltall schickt. Das Ende beruht, wie Judith sagt, auf einer wahren Begebenheit. An der ersten Weltraumsonde, die 1972 die Erde und das Sonnensystem verlassen sollte, wurde auf einer vergoldeten Aluminiumplakette eine Bildbotschaft an andere Bewohner des Milchstraßensystems eingraviert. Sie gab Auskunft über das Aussehen der Absender, ihre Intelligenz und die Lage der Sonne im Verhältnis zu ihrer Umgebung. Das Bild, das wir später im Internet finden, sieht wie eine misslungene Arzneimittelwerbung aus. Die männliche Figur, die genauso wie die daneben abgebildete weibliche Figur nackt ist, hebt die Hand zu einem etwas eigentümlichen Gruß. Judith fasziniert dieses Bild. Sie findet es überhaupt nicht abwegig, dass zwei Nackte die Menschheit repräsentieren. »Stell dir vor, das wären wir«, sagt sie. »Würdest du dir wünschen, dass ich den Arm hebe und die Außerirdischen grüße?«, frage ich sie. »Ja«, sagt sie, »warum nicht? Und niemand würde wissen, dass du Therapeut bist.« Die Raumsonde ist wahrscheinlich immer noch unterwegs und braucht noch Jahrhunderte bis sie irgendjemanden erreicht, der ihre Botschaft entziffern kann. Wir schauen uns diese Filme an, lesen die Bücher, und es scheint mir, als nähmen wir sie mit einer lüsternen Gleichgültigkeit wahr und als ginge es darum, sich ganz in ihnen zu verlieren. Einmal frage ich sie, was denn genau passieren soll, wenn wir dann am Schluss ganz allein sind, und ob sie sich wünschen würde, die von uns zur Welt gebrachten Kinder würden dann ihrerseits miteinander Sex haben, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. »Könntest du dann einfach so wegschauen?« Aber so weit denkt sie gar nicht. »Du bist viel zu genau«, sagt sie. »Und außerdem will ich gar nicht so alt werden.« Ich denke an die durch das All trudelnde Raumsonde mit der vergoldeten Aluminiumplatte und

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