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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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Arztpraxis aussieht. Anna steht neben mir, während ich Anne erkläre, was sie tun soll. Stop and don’t move. Innezuhalten und aufzuhören, dafür ist es zu spät. Ich habe mir vorgenommen, dass ich mich selbst nicht ausziehe und auch meine Schuhe anbehalte. Anna versucht, mir das Hemd auszuziehen, aber ich schüttele nur den Kopf. Das ist das Bild, in das ich mit der vollklimatisierten U-Bahn hineinfahre. Annes Körper vor mir auf dem Schlafsofa. Sie schaut mich fragend an, ob ich mit ihrer Körperhaltung einverstanden bin. »Nein. Dreh dich nicht um«, sage ich zu Anne. »Mach weiter so.« Ihre nicht vorhandenen Brüste, mein Eindruck, die Muttermale auf ihrem Oberkörper seien größer als ihre winzigen Brustwarzen. Vielen Dank. Auf Englisch »thank you«. Es ist die Rede gewesen von großen, schweren Brüsten, die man kaum »in der Hand halten kann«. »Wirklich«, frage ich in meiner letzten E-Mail, »sie sind so groß?« »Oh yes«, schreibt sie zurück, und sie sind »very cute«. Das hätte mich stutzig machen sollen. Anna fragt mich, ob sie sich auch ausziehen soll. Sie hat die Brüste, von denen Anne gesprochen hat, und ich erkenne später, dass Anne der Einfachheit halber so tut, als setze sie sich aus zwei Personen zusammen, ein Körper, der wahlweise blond, brünett, rasiert oder unrasiert, mollig oder petite sein kann. Mehr aus Müdigkeit denn aus Leidenschaft akzeptiere ich es und gebe mich damit zufrieden. Ist das am Ende eine unausgesprochene Regel meines Lebens, dass ich den sexuellen Akt schließlich nur noch als Kapitulation wahrnehme? Der Sex beendet die quälende und kraftraubende Suche danach. Der Vormittag, den ich in der Wohnung von Michael und Janette damit verbringe, mich mit Anne darüber zu verständigen, ob das Gewicht ihrer Brüste so groß ist, dass man sie mit den Händen kaum halten kann, endet in einer großen symphonischen Inszenierung, die aber vollkommen geräuschlos bleibt. »They are too strong«, schreibt Anne in wackeligem Englisch. »Was meinst du damit«, schreibe ich zurück. Und dummerweise setze ich hinzu: »Too heavy?« »Oh yes, sure and very cute.« Anna macht einen Schritt zurück, sie möchte wieder in den Chat, in dem sie mit ihrem polnischen Liebhaber zu einer Videokonferenz verabredet ist. Ich mag Anne. Anne, die auf der Couch sitzt oder besser gesagt kauert. Eine Gefangene meiner Phantasie. Sie erzählt mir, der Bruder ihrer Mutter arbeite in einem »Kulturzentrum« in Berlin und sie selbst sei eine begeisterte Leserin von Romanen von John le Carré. Als sie mir die zerlesenen und zerfledderten Bücher zeigt und mit einem koketten Lächeln bemerkt, sie würde mir, nachdem ich ihr gesagt habe, ich hätte in New York gar nichts zu lesen dabei, gerne eins schenken, tut sie mir auf einmal leid. Aber noch mehr tue ich mir selbst leid. Als ich wieder in meiner Wohnung bin und den ausgeschalteten Computer sehe, sage ich mir: »Du magst sie … Aber gefällt sie dir auch?« Stop and don’t move. Ich möchte mich nicht daran erinnern. Das plötzlich zurückkehrende Bild von Anne in der U-Bahn, kurz hinter Jefferson Street. Ihr Körper unnatürlich verdreht, eingeklemmt zwischen Rückbank und Sitzfläche des Schlafsofas. Die Hände an den Oberschenkeln festgekrallt, die Augen glasig und die Fußsohlen auffallend groß, von einer zarten gelben Tönung, als würden ihre Füße heimlich rauchen. Mein Gott, um Himmels willen. Stop and don’t move. Die Kälte in dem abgedunkelten Raum. Die Lebensmittelkartons aus einem Supermarkt, der osteuropäische Nahrungsmittel verkauft. Die Kälte in der Luft, die Kälte in meinen Fingerspitzen, in den Fingern von Annas Hand, die mich versehentlich berührt. Anne schaut mich an, während Anna sie berührt, so wie ich es Anne erklärt habe, die mit gespreizten Beinen und absurd eingeklemmtem Kopf auf der Couch hockt. Anna nickt. Als sei sie eine Haushaltshilfe. Es ist etwas schwierig, ihr zu erklären, dass ich sie am Anfang noch nicht nackt sehen will, obwohl ich mich auf ihre großen Brüste freue. Zu Judith sage ich einmal: »Das liegt jetzt hinter mir. Das sind Sachen, die ich während des Studiums gemacht habe.« Anne und Anna schauen mich an, warten auf Anweisungen. Ich lasse sie es noch einmal wiederholen, sie sollen es noch einmal tun. »Once again.« Eine plötzliche Rückkehr der Gefühle. Eine plötzliche Geste der Versöhnung. Ohne es zu wollen, nehme ich das Geschenk an, nehme den John-le-Carré-Roman mit und stelle ihn zu

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