Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
immer noch bei der Telekom arbeitet, Kinder hat. Sie schreibt mir, sie habe angefangen, psychologische Ratgeber zu lesen, und dass sie davon »träumt«, eine Psychotherapie anzufangen und wie denn die »Therapietechnik« hieße, die ich anwende. Sie sagt, sie hätte bei dem Gedanken, dass doch ich sie therapieren könne, geweint. Sie leidet unter Agoraphobie, und vermutlich arbeitet sie deswegen bei Trixis, dem Schmuckgeschäft ohne Fenster, ohne Mitarbeiterkabuff und ohne Klo. Um auf die Toilette zu gehen, muss sie den Häagen-Dazs-Verkäufer bitten, ein Auge auf die in den Glasvitrinen verschlossenen Schmuckauslagen zu haben, die oft weniger wert sind als das Eis, das den ganzen Tag unter seinen Augen schmilzt. Sie leistet sich ganz selten eine Kugel, sie ist sehr sparsam. Ihre Lieblingssorte ist Apfel-Karamel. Sie sagt: »Wie kann ich dich glücklich machen?« Anna und Anne sagen: »Wie können wir dich glücklich machen?«, beziehungsweise: sie sagen es nicht, sie sind nicht in der Lage dazu, ihr Englisch reicht dazu nicht aus. »You happy here?«, fragt Anne. Ich laufe drei Stunden durch Baltimore, umkreise die Backsteinkirche in Little Italy, schlendere zum Hafen herunter und lasse den Dunkin’-Donuts-Laden links liegen, in dem wir später frühstücken, ein kurzes liebloses Frühstück, das wir im Stehen einnehmen. Anne ist kleiner und zarter, als ich gedacht habe. Am Anfang sitzen wir einfach so zusammen, und ihre Freundin verlässt mehrmals die Küche, um dann plötzlich im Bademantel zurückzukehren und uns mitzuteilen, dass die Tür zum Nebenzimmer unbedingt geschlossen bleiben muss, weil die Klimaanlage auf Hochtouren läuft. Judith und ich teilen uns einen Donut mit dem Namen »Boston Creme«, und dann suchen wir Poe-Haus. In meiner Erinnerung stehe ich in der Lobby unseres Hotels, unsicher, ob ich nach drei Stunden des Herumwanderns nach oben in unser Zimmer gehen soll. Ob Judith schon wach ist? Es scheint mir wichtig, dass sie ausgeschlafen ist, da sie doch am nächsten Tag wieder im Robert-Kennedy-Institut arbeiten muss, während ich nach München zurückfliege. »Lass sie doch ausschlafen«, sage ich mir. Ich versuche mich an das Zimmer zu erinnern. 190 Dollar die Nacht. Die Wahrheit dieser Nacht liegt woanders, vielleicht in dem Fernseher, der direkt vor dem Bett steht. Haben wir nicht doch noch einen Film zusammen gesehen, als wir abends aus Little Italy zurückgekommen sind? Daran muss ich mich doch erinnern können.
Die schweren bis zum Boden reichenden Vorhänge. Die Fenster, die sich nicht öffnen lassen, weil wir zu weit oben sind. Meine Angst, als ich morgens aufwache. »Also dann wohnst du ja ganz in der Nähe«, sage ich zu Anne. Der Raum, in dem die Klimaanlage läuft, entpuppt sich als schmaler dunkler Gang, eine Art Flur, der in ein Zimmer umgewandelt worden ist. Die Wände sind mit Kartons, Teppichen und Regalen vollgestellt. Es ist ein dunkler Schlauch, unterteilt in einen lauwarmen und in einen kühlen Bereich, in ein wohltemperiertes Vorzimmer, in dem sich Annes Bett und ihr kleiner Privatbereich befinden, und ein Hinterzimmer, das durch einen Vorhang abgetrennt ist, in dem ihre Freundin wohnt und der Computer steht. Ihre Freundin heißt auch Anne, wie Anne mir erklärt, aber »Anne mit zwei a«. Anna könnte Annes Mutter sein. Ist das das Schlimmste? Ist das das Traumatische? Der Computer in Annas Zimmer, der genauso aussieht wie mein Computer, der in der Mittagshitze jetzt langsam vor sich hin schmilzt. Die Transporter mit den eingeschweißten Fleischhälften. Der Schlüssel, der im kaputten Türschloss hängen bleibt. Ich bringe die Reihenfolge durcheinander. Ich sehe mich, in der Erinnerung, wie ich das Schlafzimmer von Anna und Anne betrete. Ich betrete es, und ich sehe Gabriela. Ich sehe Gabriela und die Fotografien ihrer Töchter. Sie hat Zwillinge zur Welt gebracht. Anonyme Gesichter von Säuglingen, die auf dem Rücken liegen und mit Plastikbuchstaben spielen, die an einem Gestell befestigt sind, sodass sie sie gerade mit ihren kleinen Fingern erreichen, sie aber unmöglich in den Mund stecken können. Dahinter Gabrielas Gesicht. Plötzlich tritt es wie ein riesiges am Straßenrand stehendes Werbeplakat hervor. Gabriela strahlt mich an. Für den Bruchteil einer Sekunde, wie eine unangekündigte Werbeunterbrechung, taucht ihr Gesicht auf. Lieber Gott, Herrgott im Himmel. Erlöse mich von dem Bösen. Es könnte der 495 oder der 278 sein, ein aus der Stadt herausführender
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