Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
gleichmäßiger Geschwindigkeit unserem jeweiligen Ziel entgegenstreben. Die Frau mit der Wildledertasche könnte Anne sein. Im Profil hat sie große Ähnlichkeit mit ihr, obwohl ich mir Anne nicht in der U-Bahn vorstellen kann, schon gar nicht mit einer Wildledertasche auf dem Schoß, die Hände demütig über dem goldenen Verschluss ihrer Tasche zusammengefaltet. »Sind Sie gestillt worden als Kind?«, könnte ich Lambert fragen. Die Frau neben mir hat auffallend große Brüste. Es sind die Brüste, die Anne, die polnische Prostituierte, die ich im Internet kennenlerne, nicht hat. Die großen Brüste, die fehlen und die uns beinahe zum Verhängnis werden, in Greenpoint, einem Nachbarstadtteil von Williamsburg. Obwohl die letzte Stunde mit Lambert schwierig und in gewisser Weise deprimierend gewesen ist, empfinde ich sie doch als Fortschritt und habe das Gefühl, dass, nach all dem, was ich versucht und an Energie investiert habe, etwas in Bewegung geraten ist. Er wird es immer wieder versuchen. So wie die E-Mail, die er mir geschickt, oder den Zettel, den er mir auf den Schreibtisch gelegt hat. Immer dann, wenn ich das zulasse, wenn ich eine Grenzüberschreitung erlaube, begebe ich mich auf ein gefährliches Terrain und bringe auch ihn damit in Gefahr. »Thomas Kaszinski«, sagt er. »Ich habe Ihren Namen noch nie ausgesprochen, ich sage immer nur ›mein Therapeut‹ oder ›der Therapeut‹. Finden Sie das nicht komisch?« Ich lächele ihn an, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was als Nächstes kommt. Er richtet sich auf: »Soll ich Ihnen mal was sagen?« Er schaut mich herausfordernd an. »Aber es interessiert Sie ja sowieso nicht, was ich von Ihnen denke.«
Es ist am frühen Morgen, als ich das Hotel verlasse. Es ist am frühen Morgen, dass Lambert in meiner Praxis die Nerven verliert. Am frühen Morgen, als ich aus Queens zurückkomme und auf einmal eine sexuelle Phantasie habe, nachdem mich der Taxifahrer, den der Schnauzbärtige mit seinem elfenbeinfarbenen schnurlosen Telefon gerufen hat, vor der Haustür abgesetzt hat. Ich fahre nicht nach Washington. Ich bleibe zu Hause. Es ist sieben Uhr. Kurz nach acht, als Lambert in die Praxis kommt. Halb sieben in Baltimore. Sechs Uhr zwanzig, als ich an die Bar mit der Fransen-Stehlampe in der Grand Street denken muss. Es passiert immer morgens. Als würde der Übergang, der Wechsel von der Nacht in den Tag, nicht richtig funktionieren, als würde dabei etwas schiefgehen. Das Licht, in das man hineintritt wie in eine fremde Welt, die über Nacht eine andere Gestalt angenommen hat und jetzt in aller Härte und Klarheit erstrahlt. Das Licht des Morgens. »Ich bin nicht so sehr an Brüsten interessiert«, schreibe ich in meiner ersten E-Mail an Anne, »aber wenn sie wirklich so schön sind und deine Freundin sie so gerne berührt.« Ihre Freundin spricht kein Englisch, sie kann noch nicht mal bitte oder danke sagen. Vielleicht ein besonders perfider Versuch der Verführung. »Ist sie auch da?«, frage ich. Ich denke in diesem Moment nicht an Geld, nicht an die finanziellen Konsequenzen. Das Licht. Es kann ein hoher blauer Ton sein. Ein bleiches, graues Lauern. Bei meinem Spaziergang in Baltimore steigt es in meinem Rücken langsam hinter mir nach oben. Es steigt mit einer Geschwindigkeit, die man nicht sehen kann. »Wirklich?«, frage ich Anne. »Sie sind wirklich so groß? To be honest«, schreibe ich, »I am not into breasts.« Und »breasts« hört sich in diesem Moment etwas komisch an. Anne schreibt: »My girlfriend is into them.« »Ist sie da?«, schreibe ich im Laufe unseres mehrstündigen Gedankenaustauschs. Das Licht des Morgens. Das Licht der am offenen Herzen vorgenommenen Operation. Das Licht, das durch die Träume gewaschen, von der Schuld und den Versäumnissen der Nacht gereinigt worden ist. Es hat sich über Nacht nach oben gekämpft, und jetzt triumphiert es. Es tastet sich an den uringesprenkelten Häusersockeln hoch. Es ist gläsern und schon zersprungen. Es ist die scharfe Kante eines Gedankens, den man noch nicht gefasst hat. Es legt sich um mich wie ein Griff und zieht mich nach unten. Zwei Stunden später, als ich in Greenpoint ankomme, einem Stadtteil, der direkt neben Williamsburg liegt, als ich den unbeholfenen Verführungskünsten von Anne erliege und ihr Angebot annehme, ist das Licht schon nicht mehr so intensiv. Es ist nicht mehr das Licht von Queens, nicht mehr das Licht von New York, es ist das Licht aus meiner Kindheit. Es
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