Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Versteck zwischen zwei mannshohen Dornenbüschen verendet, möchte sie keine Energie verschwenden. Sie lehnt sich zurück. Sie hat noch nicht einmal den Gurt abgelegt. »Lass uns Blumfeld hören«, sagt sie, als wir losfahren. Hat ihr der Film in Wirklichkeit gefallen, und ich habe es nur nicht gemerkt? Wir drehen nicht mehr um, wir fahren nicht zum Nipton. »Tausend Tränen tief.« Die Schuld, die ich gesucht habe, finde ich nicht. Ich laufe weiter, laufe zwischen den Büschen hindurch zu der Fundstelle, ich trete ganz nah heran, darauf vorbereitet, einen warmen, lebendigen Körper zu finden, der auf der Schwelle zum Tod einen letzten Blick auf mich wirft. Aber das Tier mit den beiden abgetrennten Vorderläufen, den abgerissenen Gliedmaßen ist ein halb verkohlter Baumstumpf mit zwei in den Himmel ragenden dünnen Ästen. Fünfzig Meter von unserem Wagen entfernt.
Wir fahren zurück. Ich lasse Judith fahren, damit ich selbst besser reden kann. Ich will ihr etwas erklären. Ich erkläre ihr, warum es so wichtig ist, dass wir diese Nacht im Nipton verbringen, dass es aber jetzt ausgestanden und vorbei ist und dass ich mich darauf freue, mit ihr zurück nach San Diego zu fahren. »Ich verbringe lieber einen Tag mit dir in San Diego«, sagt sie, als hätten wir dort nicht schon genug Zeit zusammen verbracht. In Restaurants, in Kinos, am Hafen, am B-Street Pier und vor dem neuen Flachbildschirm im Fernsehzimmer ihrer Tante. »Das ist dieselbe Genauigkeit und Akribie, mit der ich auch meine Sitzungen auswerte und mich auf sie vorbereite«, erkläre ich ihr, »und das ist auch der Grund, warum meine Praxis so gut läuft.« Ich bleibe zehn Minuten neben der Straße sitzen. Ich tue für einen Moment noch so, als würde ich weitersuchen, obwohl ich die Suche schon aufgegeben habe. »Was hast du denn da so lange gemacht?«, fragt sie, als wir weiterfahren. Hat sie mich durchschaut? Sie hat vergessen, das Licht einzuschalten. Weiß sie schon, dass ich am gleichen Abend die Iranerin anrufe? Ihr gefällt der Porno. Sie sagt es nur nicht, sie will es nicht zugeben. Ich kann noch so viele Nächte absuchen, noch so viele Nächte durchleuchten. Es ist egal, was in Baltimore passiert ist oder in Primm. Der eigentliche Moment, die eigentliche Lösung liegt woanders. Am nächsten Tag bleibe ich zu Hause. Ich habe Fieber. Das Haus ist leer, es herrscht eine angenehme Stille, aber ich kann immer noch nicht aufhören. Ich habe immer noch nicht genug. Ich muss Schuld auf mich laden. »So geht das also … Das ist es also«, sage ich zu mir und schleife meine Gepäckstücke hinter mir her. Die Türen der U-Bahn schließen sich, und ich habe jetzt nur noch die Strecke mit dem Shuttle vor mir. Es sind nur noch 17 Minuten, wenn man es genau nimmt. 17 Minuten, und alles, was jenseits dieser Grenze passiert, jede Minute, die ich noch verliere, bringt mich in eine Situation, in der ich nur noch auf ein Wunder hoffen kann. Wir fahren zurück. Die Wüste hellt sich etwas auf, der Sternenhimmel dehnt sich. Der Asphalt der Straße ist von einem gnädigen Grau, das natürliche Licht der Nacht auf einmal so klar, dass Judith nicht merkt, dass sie das Licht nicht eingeschaltet hat. »Spinnst du«, schnauze ich sie an, kurz bevor wir den Highway erreichen, »hier ohne Licht zu fahren?«
Teil Vier
1
»Sie lesen das hier ja sowieso nicht«, schreibt Lambert in seiner E-Mail, die ich schon im Internet-Café in Williamsburg ausdrucke, aber erst jetzt in der U-Bahn lese. Ich brauche mir wegen ihm keine Sorgen zu machen, aber es könnte sein, dass ich mein Verhalten ändern muss. Ich darf auf keinen Fall noch einmal zulassen, dass er eine Stunde eigenmächtig überzieht. Mit Mads Christiansen streite ich immer wieder darüber, warum ich so einen Klienten nicht aufgebe. Er hat keine Ahnung. Er träumt immer davon, irgendwann auch eine Praxis zu eröffnen, obwohl er in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Menschen therapiert hat. »Er ist ganz kalt, dieser Blick«, schreibt Lambert in seiner E-Mail. Sein Vater hat seine Tätigkeit bei den Grünen jetzt beendet und arbeitet als Geschäftsführer von Transparency International. »Und wie er immer schaut. Es ist kalt und indifferent, so wie ein Gott schauen würde, den man erwischt hat. Denn das ist ja die einzige Chance für einen Gott, wenn man ihn erwischt, wenn man ihn nämlich ausfindig gemacht hat, in seiner göttlichen Unnahbarkeit. Das ist die einzige Chance, um weiterexistieren zu können. Er
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