Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
der moralischen Distanz. Judith trägt ihren Bücherstapel ins Wohnzimmer, oder sie sitzt in der Küche. An schönen Tagen ist sie draußen im Garten. Sie putzt sich die Nase, indem sie ein zusammengeknülltes Taschentuch unter ihre Nasenlöcher hält. Man kann nicht sagen, dass sie sich die Nase putzt, sie lässt sie laufen. Später bereue ich es, dass ich diese Hinterlassenschaften, ihre »droppings«, wie ihre Tante sagt, beseitigt habe. Ich finde keine Taschentücher mehr, aber zwei Inhalatoren, die unter das Bett gefallen sind. »Gib uns beiden ein bisschen Zeit«, sagt sie bei unserem Spaziergang in den Kelso Dünen. »Wenn ich es schaffe, ein Stipendium zu kriegen, bleibe ich natürlich länger. Aber du kannst mich ja besuchen. Und ich«, setzt sie hinzu und macht eine kurze Pause, »besuche dich auch.« Als wären wir von der gleichen Krankheit betroffen, als hätte uns das gleiche Schicksal ereilt.
Ich schwebe dem Terminal 4 entgegen, mittlerweile schon wenige Minuten über der Zeit. Der Shuttle heißt »Air Train«, fährt aber so langsam, dass ich mir wünsche, ich könnte ihn verlassen und zu Fuß weitergehen. »Kein Problem«, sage ich mir. »Ich rede mit den Leuten.« Die Leute beim Einchecken, ich spreche mit denen. »Du bist wie ein Schmetterling«, sagt Judith, »wenn du etwas willst. Dann fliegst du um einen herum und flatterst mit den Flügeln.« Sie trägt Jogginghosen, lässt ihre Nase laufen und verteilt Taschentücher auf dem Fußboden. Warum will sie nicht nach München zurück? Wegen der Geschichte in unserer Gästewohnung? Ich erkläre ihr, wie akribisch ich meine Sitzungen vorbereite und dass es in meiner Arbeit um Präzision, Einfühlung und höchste Aufmerksamkeit geht, aber gleichzeitig auch um Chaos und Kreativität. Aber in Wirklichkeit will ich nicht nach San Diego zurück. Ich sage: »Du musst das verstehen. Ich kann gar nicht anders.« Statt dass ich sage: Ich möchte, dass wir hier bleiben, dass wir die Nacht hier draußen verbringen, hier in dieser unglaublichen Stille und Dunkelheit. Unter freiem Himmel. Nur wir beide. Auf diese Idee komme ich nicht. Als wir von unserer Reise nach San Diego zurückkehren, gehen wir essen. Die Iranerin ist nicht zu Hause. Die Ansage auf ihrem Anrufbeantworter ist ein haltloses und sinnloses Vogelgezwitscher. Ich fische den Zettel mit ihrer Nummer wieder aus der Mülltüte heraus. Es sind nur wenige Nächte, die wir in San Diego verbringen. Wir übernachten in dem Raum, in dem Betty und Aaron normalerweise ihre Wäsche zum Trocknen aufhängen. Als Schlafstätte dient uns eine Zusammenstellung aus Tüchern, Decken und einem alten Schlafsack. Bei unserer Rückkehr ist Besuch da. Betty, Aaron, Aarons Mutter und seine Großtante, die blind ist und trotzdem die ganze Zeit fernsieht. Sie sind alle zu Hause und erwarten uns. Trotzdem rufe ich die Iranerin an, und zwar von Bettys Schlafzimmer aus, während unten die anderen mit dem Essen auf mich warten. Ich muss nicht einmal besonders leise sprechen. »Please leave a message after the beep.« Ein Singsang, der gar nicht mehr aufhört. Ich probiere es dreimal, weil mir die Iranerin bei unseren ersten Kontaktanbahnungsgesprächen gesagt hat, sie sei eigentlich immer zu Hause, aber es könne natürlich sein, dass sie nicht ans Telefon geht, aber dann solle ich es eben mehrmals probieren. Ich habe Fieber, wie sich später herausstellt, 39 Grad. Auf der Rückfahrt sehe ich immer wieder Betty und ihren Freund Aaron vor mir. Ich sehe sie vor dem Fernseher sitzen, noch immer vor demselben Film, den sie auch morgens bei unserer Abreise schon gesehen haben. Brazil . Ich sehe sie beide mit ihren kugelförmigen, unbeweglichen Körpern auf den anthrazitfarbenen Sesseln vor dem neuen Flachbildschirm. Sie schauen eine Extended Version, die den ganzen Tag läuft. Aber im Grunde, wie ich in meinem Fieberwahn denke, schauen sie nicht den Film, sondern sie schauen mich an. Sie schauen mir zu, wie ich in ihrem Wagen durch die Wüste fahre und zusammen mit ihrer Nichte langsam sterbe. Wir gehen essen. Ich überrede Judith, die lieber zu Hause bleiben würde. »Ich war doch gar nicht so viel draußen«, erkläre ich. »Es kann gar kein Hitzeschlag sein.« Oder ist das am nächsten Tag gewesen? Ist es an dem Tag gewesen, nachdem ich die Iranerin getroffen habe?
2
Der Air Train erreicht die nächste Station. Einige Leute steigen aus. Mit einem Ruck setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Ein Mann in einem grauen
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