Lichtjahre
dicht. Im Osten war er fast weiß. Ihr Körper und Geist waren entspannt, sie waren zur Ruhe gekommen. Sie bereiteten sich auf die letzte Verwandlung vor, die sie nur erahnte.
In Rom saß die alte Frau, die für Lia putzte, auf einem Stuhl und weinte. Sie war achtzig. Sie war langsam, aber immer noch imstande zu arbeiten. Ihre Hände waren durch das Alter fühllos geworden.
»Was haben Sie?« fragte Lia. »Was ist passiert?«
Die Frau weinte einfach nur hilflos weiter. Ihr Körper wurde
geschüttelt.
» Ma come , Assunta?«
»Signora«, schluchzte sie, »ich will nicht sterben.« Sie saß da, in der Küche, todunglücklich.
»Sterben? Sind Sie krank?«
»Nein, nein.« Ihr Gesicht war abgehärmt und flehend, das Gesicht eines uralten Kindes. »Ich bin nicht krank.«
»Aber wovon sprechen Sie dann?«
»Es ist nur, daß ich Angst habe.«
»Oh je«, sagte Lia sanft. »Sie dürfen sich nicht so aufregen. Das ist doch töricht.« Sie nahm die Hand der alten Frau. »Es wird alles gut werden, machen Sie sich keine Sorgen.«
»Signora . ..«
»Ja.«
»Glauben Sie, es gibt etwas danach?«
»Assunta, weinen Sie doch nicht.« Wie rührend alte Menschen sind, dachte sie. Wie ehrlich, ohne jede Verstellung, ohne Stolz.
»Ich habe Angst.«
»Ich erzähl Ihnen, wie es ist«, sagte Lia beruhigend. »Es ist, als wäre man müde, sehr, sehr müde, und dann schläft man einfach ein.«
»Glauben Sie?«
»Ein wunderschöner Schlaf«, sagte sie. »Ein Schlaf, den nur diejenigen, die eine lange Zeit gearbeitet haben, sich verdienen und der niemals endet.«
Sie war herzlich, sie tröstete sie mit der Kraft derer, die nichts zu verlieren haben. Es war ihr vollkommen unmöglich, sich das Ende ihres Lebens vorzustellen. Vor ihr lagen noch Jahrzehnte, Reisen nach Paris im Dezember mit ihrem Mann, Abendessen in kleinen Hotels am Place Vendôme, die Lichter und der Weihnachtsschmuck draußen vor dem Fenster, Austern - ihre ersten - am kalten Nachmittag, daneben die Zitronenhälften, die kleinen eckigen Brotscheiben.
»Ein wunderbarer Schlaf«, sagte sie.
Die alte Frau wischte sich die Tränen ab. Sie war jetzt ruhiger. »Ja«, stimmte sie zu. »Ja, so wird es sein.«
»Natürlich.«
»Aber ...«, sagte sie, »wie schön ist es doch, am Morgen aufzuwachen und frischen Kaffee zu trinken ...«
»Ja.«
»Der Duft ist so wunderbar.«
»Die arme Frau«, sagte Viri später.
»Ich hab ihr etwas Wein gegeben«, sagte Lia.
»Hat sie denn keine Familie?«
»Nein, ihre Familie gibt es nicht mehr.«
In dem Sommer kam Franca ihre Mutter noch einmal besuchen. Sie saßen unter den Bäumen. Nedra hatte Geld, sie hatte eine Flasche guten Wein gekauft. »Erinnerst du dich noch an Ursula?« fragte sie.
»Unser Pony? Ja.«
»Sie war so unmöglich. Ich wollte sie verkaufen, aber dein Vater hat das nicht zugelassen. «
»Ich weiß. Er hat sie wirklich geliebt.«
»Er hat sie von Zeit zu Zeit geliebt. Erinnerst du dich an Leslie? Leslie Dahlander?«
»Die arme Leslie.«
»Es ist merkwürdig. Ich denk in letzter Zeit oft an sie«, sagte Nedra.
»Aber du hast sie doch gar nicht so gut gekannt.«
»Nein, aber die Jahre damals hab ich gekannt.«
Sie sah ihre Tochter an, ein Gefühl von Neid und Glück überschwemmte sie, ein Aufwallen wie eine Windbö. Sie sprachen von dem Haus, von längst vergangenen Tagen, die Stunden lagen neben ihnen wie ein regloser Fluß. Um sie herum erstreckte sich das weite Ackerland, das erst durch die nicht sichtbare See erregend wurde. Kaninchen suchten auf den staubigen Feldern nach Futter, über der Küste standen Seevögel in der Luft. All dies würde verschwinden, es würde Pudelbesitzern gehören, hatte Arnaud gesagt. Seine Abgelegenheit hatte es bisher geschützt, aber jetzt schmolzen die Farmen dahin wie das Eis im Frühling; sie zerbrachen, zerrannen, unwieder-bringlich. Diese weite Halbinsel, diese karge Region würde es nicht mehr geben. Wir leben zu lange, dachte Nedra.
»Erinnerst du dich an Kate?« fragte Franca.
»Ja. Was ist aus ihr geworden?«
»Sie hat jetzt drei Kinder.«
»Sie war so dünn. Sie war fast wie ein Junge - ein schöner, frecher Junge.«
»Sie lebt in Poughkeepsie.«
»Im Exil.«
»Ihr Vater ist jetzt ziemlich berühmt«, sagte sie. Hast du den Artikel gesehen?« Sie ging ins Haus, um nach der Ausgabe von Harper's Bazaar zu suchen.
»Irgendwas hab ich über ihn gelesen«, erinnerte sich Nedra. Franca blätterte in den Seiten. »Hier«, sagte sie. Sie zeigte es
Weitere Kostenlose Bücher