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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Sein Kopf lag auf die Seite gerollt, seine Augen waren geschlossen.
    »Sieh mich an«, befahl sie.
    Sie war dunkel, wie ein Mädchen von der Straße, die helle Morgensonne fiel hart auf eine Seite ihres Körpers. »Sieh mich an«, sagte sie. Sie war der schmale Strahl eines himmlischen Lichts; ihre Arme waren dünn, ihre Brüste wie die einer Sechzehnjährigen.
    Sie zögerte. Ihre Bewegungen waren langsam wie im Traum, sie stützte sich neben ihren Schenkeln auf die Hände. Der Brief war ihr Publikum, sie gab eine Vorstellung für ihn, als hätte er Augen, als wäre er ein armes, machtloses Kind, dem sie ihre Schamlosigkeit zeigte, ihre Kraft. Ihre Stimme zitterte, als sie sich nach vorne beugte.
    »Ja«, flüsterte sie, »ich werde deine Hure sein.«
    Sein Kopf lag zurückgebogen, wie abgetrennt zwischen den Kissen. Seine Gedanken überschlugen sich.
    »Alles«, schwor sie.
    Danach verließ sie das Bett. Sie war zielstrebig, ohne Hast, ihre Vorstellung war noch nicht beendet. Die Tür zum Badezimmer schloß sich hinter ihr. Er lag da, während das Zimmer um ihn herum still wurde, die Wände verblaßten, die Decke, so wie silbernes Wasser sich nach dem Sprung eines großen Fisches beruhigt. Er war Zeuge dieser Szene, dieses Kampfes zwischen der Welt der Erinnerung und der des Fleisches, und seine Gedanken wandten sich unwiderstehlich dem wieder zu, was sie ihn zu vergessen anflehte: Nedra, die trotz des Briefes weiterlebte, deren Leben immer noch Stärke ausstrahlte, in deren Kielwasser er immer geschwommen war - selbst bevor sie Mann und Frau wurden, bevor, während, nachdem. Und dann dachte er an ihre Rivalin, die ihm angst machte. Diese Frauen, mit ihren Bedürfnissen und ihrer Gewißheit, ihrer blendenden Selbstsucht, ihrem Lächeln - er würde sie nie erobern, er war zu ängstlich, zu nachgiebig. Er war ihnen gegenüber hilflos; er war ihnen nahe, ja, ungeheuer nahe, sogar verwandt, aber zur selben Zeit absolut verschieden und allein, wie ein fußlahmer Rekrut in der Kaserne. Er lag allein zwischen den Laken des noch warmen Betts. Er hatte sich die Decken bis über die Hüften gezogen, er konnte die Feuchtigkeit spüren, dicht und kalt unter seinem Bein; allein in dieser Stadt, allein auf diesem Meer. Die Tage lagen verstreut um ihn herum; er war ein Trunkener der Tage. Er hatte nichts erreicht. Er besaß sein Leben - es war nicht viel wert -, es war nicht wie ein Leben, das, auch wenn es vorbei war, wirklich etwas dargestellt hatte. Wenn ich nur Mut hätte, dachte er, wenn ich Glauben besäße. Wir retten uns über die Zeit, als wäre das von irgendeiner Bedeutung, und immer auf Kosten anderer. Wir horten uns. Wir haben Erfolg, wenn die anderen scheitern, wir sind klug, wenn sie dumm sind, und wir ziehen weiter, klammern uns fest, bis keiner mehr da ist - bis wir ohne einen einzigen Begleiter sind außer Gott. An den wir nicht glauben. Der, wie wir wissen, nicht existiert.

9
    Der Tod nimmt die letzten Schritte schnell, als wäre er in Eile.
    Nedra war krank. Sie gab es nicht zu, aber sie fühlte sich plötzlich in der Stadt unwohl. Sie wollte den freien Himmel, sie wollte das Unsichtbare. Wie die zur Laichzeit flußaufwärts ziehenden Wesen, die sich dabei, ohne es zu wissen, auf ihren letzten Weg machen, die irgendwie über unglaubliche Entfernungen nach Hause finden, fuhr sie - es war Frühlingsanfang - nach Amagansett und mietete sich ein kleines Haus, das früher einmal der Geräteschuppen einer Farm gewesen war. Um es herum standen Apfelbäume, die schon lange nicht mehr trugen. Die Dielen waren abgelaufen und glatt. Das Dorf und die Felder, alles war leer und still. Hier baute sie ihren Aschram, unter dem weiten Himmel, manchmal an einem Feuer, am ausgefransten Rand des Kontinents.
    Sie war siebenundvierzig. Ihr Haar war voll und schön, ihre Hände kräftig. Ihr schien, daß alles, was sie gekannt und gelesen hatte, ihre Kinder, ihre Freunde, Dinge, die früher unvereinbar gewesen waren, widerstreitend, endlich zur Ruhe gekommen wären und ihren Platz in ihr gefunden hätten. Ein Gefühl der Ernte, des Überflusses erfüllte sie. Sie hatte nichts zu tun, und sie wartete.
    Sie wachte in der Stille eines Schlafzimmers auf, das noch kühl und dunkel war. Sie war nicht schläfrig, sie spürte, daß die Nacht vorüber war. Die knorrigen Äste der Apfelbäume bewegten sich im lautlosen Wind. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Himmel im Westen war von tiefstem Blau, die Wolken beinahe zu leuchtend, zu

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