Lichtjahre
Nedra. Es war ein langer Artikel. »Er hatte eine Ausstellung im Whitney.«
»Ja, ich erinnere mich.«
Ein großes, graues Gesicht, die Poren auf Nase und Kinn deutlich zu sehen, starrte sie an. Es war, als würde sie auf eine Art Paß schauen, die einzige Art, die zählte.
»Er ist wirklich ein sehr guter Maler«, sagte Franca.
»Muß er ja sein. Wenn er hier unter all den französischen Komtessen auftaucht.«
»Du machst dich lustig über ihn.«
»Nein, mach ich nicht. Nun, adieu, Robert.« Sie blätterte weiter zur nächsten Seite, zu leuchtendgrünen Bildern von den Bahamas, grün und blau, mit hochgewachsenen, braungebrann-ten Mädchen in Kaftanen und weißen Hüten. »Es ist nur so schwer, an Größe zu glauben«, sagte sie. »Vor allem bei Freunden.«
Sie lagen in der heiligen Sonne, die sie bedeckte, die Vögel trieben über ihren Köpfen, der Sand lag warm um ihre Knöchel, unter ihren Beinen. Auch sie war wie Marcel-Maas angekommen. Sie war endlich angekommen. Die Stimme der Krankheit hatte zu ihr gesprochen. Wie die Stimme Gottes. Sie kannte ihren Ursprung nicht, sie wußte nur, was von ihr verlangt wurde, und das war, alles zu kosten, alles anzusehen mit einem langen letzten Blick. Eine Ruhe war über sie gekommen, die Ruhe am Ende einer langen Reise.
»Liest du mir was vor?« fragte sie.
Sie saß in dem hohen braunen Gras der Dünen, einem heidnischen Lager, von dem aus man das Meer sah, sie hielt ihre Knie umschlungen und hörte zu, während Franca vorlas, wie Viri es so oft getan hatte, seinen Töchtern, ihnen allen. Es war Troyats Biographie über Tolstoi, ein Buch wie die Bibel, so reich an Geschehnissen, an Trauer, an Abschieden, so erfüllt von Kämpfen, daß Kraft aus jeder Seite sprach. Die Kapitel verwandelten sich in das eigene Fleisch, das eigene Sein; die Schicksalsschläge wuschen einen rein. Warm, vor dem Wind geschützt, hörte sie zu, während Francas klare Stimme die Landschaft Rußlands beschrieb, immer weiter, bis sie schließ-lich müde wurde und aufhörte. Sie lagen schweigend da, wie Löwinnen im trockenen Gras, mächtig, gesättigt.
»Es ist gut, findest du nicht auch?« fragte ihre Tochter.
»Wie ich dich liebe, Franca«, sagte Nedra. Von allen war das die wahre Liebe. Von allen war das die beste. Die andere, die sinnliche Liebe, die einen trunken machte, nach der man sich sehnte, die man beneidete, an die man glaubte, diese Liebe war nicht das Leben. Sie war, wonach das Leben selbst suchte; sie war die Aufhebung von Leben. Aber einem Kind nahezustehen, für das man alles hergab, dessen Leben durch das eigene beschützt und genährt wurde, dieses Kind neben sich zu haben, in vollkommener Ruhe, war die wirkliche, die tiefste, die einzige Freude.
Barfuß nebeneinander am zischenden Strand, manchmal den anderen berührend, Hüfte an Hüfte, im schattigen Innern von Autos, Geschäfte betretend, waren Paare, die sich in der Besessenheit ihrer Liebe verloren, voller Befriedigung über ihren Besitz, reich beladen, überströmend. Sie sah sie, sie zogen bedeutungslos an ihr vorüber, so wie einem Pilger die gewöhnlichen Seelen erschienen. Sie interessierte sich nicht für sie. Sie waren kraftlos, durchscheinend wie Blütenblätter. Ihre Zeit war - noch nicht gekommen. Eine Gewißheit, die sie früher für unumstößlich gehalten hatte, war vollkommen von ihr gewichen: daß der Geschmack, das Hochgefühl von Tagen, die von der Liebe erleuchtet wurden, alles sei. »Das ist eine Illusion«, sagte sie. Ihre Gedanken gingen zurück, alles verzeihend, zärtlich. Es gab Dinge, die sie fast vergessen hatte, die sie nie erzählt hatte. Sie fielen ihr unerwartet wieder ein, vielleicht zum letzten Mal.
»Dein Großvater«, sagte sie, »mein Vater - er war in der Navy, wußtest du das? Er war der Boxchampion seines Schiffs. Er erzählte mir immer Geschichten darüber. Ich erinner mich, als ich noch ein kleines Mädchen war, hat er für mich alles ganz genau nachgespielt. Er hat die Fäuste hochgenommen, der Admiral war da, alle Männer. Und ihm gegenüber im Ring, mit glänzendem Gesicht und Goldzähnen - der Kubaner... «
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich hab diese Geschichten geliebt. Ich nehm an, daß er sich einen Sohn gewünscht hat. Als ich ungefähr zwölf war und es ziemlich eindeutig wurde, daß ich ein Mädchen war, hat er mit den Geschichten aufgehört. Er war ein schwieriger Mensch. Nicht einfach zu verstehen. Weißt du, es ist wirklich merk-würdig, ich hab es nur
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