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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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durch Zufall erfahren: Eves Mutter und meine liegen auf demselben kleinen Friedhof in Maryland begraben. Ich meine, es ist ein sehr kleiner Ort. Auf dem Land. Sie kam von dort. Sie hat meinen Vater bei einem Picknick kennengelernt. Es ist so lange her. Und jetzt sind sie beide tot. Sie stammte aus einer Familie von Laden-besitzern. Sie kamen aus Virginia. Sie hatte zwei Schwestern und einen Bruder, aber der Bruder ist gestorben, als er noch ein kleiner Junge war. Er war der Liebling der Familie gewesen. Sein Name war Waddy.«
    »Ich wünschte, ich hätte sie kennengelernt.«
    »Sie hatte wunderschöne Hände. Ich glaube, sie sehnte sich nach Maryland zurück. Sie war nicht sehr stark.«
    »Wie war noch mal ihr Mädchenname?«
    »McRae.«
    »Ja, McRae.«
    »Keiner von ihnen hatte Geld«, sagte Nedra. »Das ist das Traurige dabei. Ehrlich, ja, aber von Ehre kann man nicht leben.«
    »Also hab ich schottisches Blut in mir.«
    »Mehr russisches, glaub ich. Du bist deinem Vater sehr ähnlich.«
    »Findest du wirklich?«
    »Ja, und das ist gut so.«
    »Warum?«
    »Laß mich dich ansehen. Na ja«, sagte sie, »weil du etwas Unergründliches hast.« Sie streckte die Hand aus, um Francas Wange zu berühren. »Ja«, sagte sie. »Unergründlich und wunderbar.«
    Franca nahm die Hand und küßte sie.
    »Mama... «, begann sie. Sie war den Tränen nahe.
    »Weißt du, ich bin so froh, daß du dieses Jahr kommen konntest«, sagte Nedra. »Ich denke immer, daß wir hier nicht mehr lange herkommen werden, wir müssen einen anderen Ort finden. Wir sollten wirklich ein-oder zweimal essen gehen, solange du hier bist. Catherine sagt, es gibt hier ein griechisches Lokal, zwei Brüder betreiben es, das nicht schlecht sein soll. Wir könnten moussaka essen. Ich hab das in London gegessen. Es gibt da ein phantastisches griechisches Restaurant. Irgendwann fahren wir mal dahin.«
    »Ja.«
    Sie strich ihrer Tochter, übers Haar.
    »Das war schön«, sagte Franca.

10
    Sie starb wie ihr Vater, plötzlich, im Herbst desselben Jahres. Es war, als verließe sie während einer Passage, die sie besonders mochte, das Konzert, als gäbe sie eine Stunde vor der Morgendämmerung auf. So schien es zumindest. Sie liebte den Herbst, sie war ein Wesen blauer, vollkommener Tage, die Mittagssonne heiß wie die Küste Afrikas, die Kühle der Nächte weit und klar. Als bräche sie lächelnd und eilig auf, vielleicht aufs Land oder auch nur in ein anderes Zimmer, zu einem Abend, der schöner war als der unsere. Sie starb wie ihr Vater. Sie fühlte sich krank. Schmerzen im Unterleib. Eine Zeitlang konnten sie nichts feststellen. Die Röntgenbilder, die vielen Blutuntersuchungen zeigten nichts.
    Die Blätter waren, so schien es, in einer einzigen Nacht gefallen. Die dicken Bäume der Allee in der Kleinstadt ließen sie widerstandslos fahren; sie fielen wie Regen. Sie stauten sich wie kleine Wasserläufe zu beiden Seiten der melancholischen Straße. Mit der neuen Jahreszeit würden sie wieder grün werden, diese gewaltigen Bäume. Die toten Äste würden abbrechen, die Zweige würden zum Leben erwachen und sich füllen. Sie würden zusätzlich zu ihrer Schönheit, zu dem Dach, das sie unter dem Himmel bildeten, zu dem Rauschen, den langsamen, unbestimmten Geräuschen, den Reichtümern, die sie hinunterwarfen - neben alldem würden sie wieder einen Maßstab geben, ein wahres Maß, beruhigend, weise. Wir leben nicht so lange wie sie, wir wissen nicht so viel.
    Sie ließen ihre Blätter fallen, als wollten sie um sie trauern, als weinten sie um eine Königin des Waldes. Unter den wenigen, die zur Beerdigung kamen, stand Franca allein. Sie hatte keinen Mann. Ihr Gesicht und ihre Hände schienen bloß, wie reinge-waschen. Sie wirkte wie ein höheres Wesen, blaß, ihr Gesicht war dasselbe Gesicht wie das der toten Frau, nur schöner, viel schöner, als ihre Mutter je hätte sein können. Die Gegenwart ist machtvoll. Erinnerungen verblassen.
    Danny hatte ihre Kinder bei sich, zwei kleine Mädchen von zwei und vier Jahren, die ihre Großmutter kaum gekannt hatten. Ihre Großmutter! Es schien unglaublich. Sie hatten klare Gesichtszüge und ein heiteres Wesen, obwohl die ältere während des ganzen Gottesdienstes laut daherredete, als wäre sonst niemand da. Zwei Töchter, eine an jeder Seite, die, obwohl sie sich dessen nicht bewußt waren, ein anderes Jahrhundert erleben würden, das neue Jahrtausend. Vielleicht würden sie ihren Kindern laut vorlesen wie Viri während der

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