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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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fließe förmlich über. Ich bin nicht süß - nein, nicht so, daß man es beim ersten Mal schmeckt. Aber süße Dinge vergißt man schnell, süße Dinge sind schwach. Ich habe die Geduld zu warten, ja, so lange wie nötig. Ich werde einen Monat warten, ein Jahr, fünf Jahre, ich werde hier sitzen wie eine Witwe und eine Art napoleone spielen, weil ich dich langsam, ganz langsam hörig machen werde. Ich werde es tun, wenn der Moment gekommen ist, wenn ich weiß, daß die Zeit reif ist, es zu schaffen. Bis dahin werde ich an deinem Tisch sitzen, ich werde bei dir liegen wie eine Konkubine - ja, ich werde mich dir in jeder Weise hingeben, ich werde in deine Phantasien einbrechen, ich werde sie ausrauben und die einzelnen Stücke behalten, um dich mit ihnen zu hypnotisieren. Ich werde sagen: ›Diese Dinge, von denen du träumst, ich werde sie wahr-machen.‹ Ich werde dein arabisches Mädchen sein, ich werde dich nackt bedienen, ja, ich werde dir das Essen zwischen meinen Zähnen reichen, ich werde deine Tochter sein, ich werde deine Hure sein. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich weiß - nein, niemals -, was ich mir ausgemalt habe. Amore, das Geheimnis ist, Mut zum Leben zu haben. Wenn du den hast, wird sich früher oder später alles ändern.«
    Er stand auf und ging ins Bad, um ihr zu entkommen. Ihre Intensität, die Einsamkeit ihrer Stimme überwältigten ihn. Im Spiegel sah er einen Mann mit weißem Gesicht, als hätte man ihn gerade geweckt. Er schien sterblich, schwach. Er sah deutlich, daß sich etwas Unvorstellbares abzuzeichnen begann: Er wurde ein alter Mann. Er konnte es nicht glauben, er mußte es verhindern, er konnte es nicht zulassen - und doch war es zugleich der Sinn seines ganzen Lebens.
    Sie klopfte an die Tür. »Ist alles in Ordnung, amore?«
    »Ja.« Er öffnete die Tür. Sie hatte sich ihren Morgenmantel angezogen. »Ja, alles in Ordnung.«
    »Komm«, sagte sie. »Ich werd dir einen Tee machen.«
    Seine Fortschritte waren langsam, wie das Verstreichen der Tage, aber mit der Zeit bemerkte er die Kälte der Fliesenböden nicht mehr, das schrille Klingeln des Telefons, die Hähne, aus denen das Wasser so schwach herauslief, als wäre man mitten in einer Dürreperiode. Nach endlosen Depressionen, schlaf-losen Nächten, der Erkenntnis, daß das Leben, das er angenommen hatte, unglücklich und ohne Hoffnung war, hellte sich seine Stimmung langsam auf, er wurde sogar ruhig. Es war ihm möglich zu lesen und zu denken. Die Tage zogen still herauf. Ich hab es überstanden, dachte er. Wie der Überlebende eines Schiffbruchs prüfte er, ob noch alles an ihm ganz war. Er faßte Arme und Beine an, das Gesicht, er begann mit dem lebenswichtigen Prozeß zu vergessen, was vorüber war.
    Er durchlebte eine Phase des Friedens, der Zufriedenheit mit dem täglichen Leben. Er sah sich dankbar um. Es erschien ihm immer noch nicht ganz wirklich, es war eine Art Szenerie, die er betrachtete wie jemand, der in einem Zug saß, manches davon war lebendig, wenn es vorüberzog, anderes karg.

8
    Im Briefkasten lag ein Umschlag, der in der klaren Handschrift adressiert war, die er sofort wiedererkannte. Er riß ihn im Flur auf und begann mit klopfendem Herzen zu lesen. Liebster Viri ... Wie direkt sie über die Meilen, über alles hinweg zu ihm sprach. Seine Augen eilten durch die Zeilen. Er erwartete immer, daß sie ihm sagte, sie habe sich geirrt, sie habe ihre Meinung geändert. Es gab keinen Tag, keine Stunde, in der seine unmittelbare, vorbehaltlose Reaktion nicht gewesen wäre, sich zu ergeben. Er war wie einer dieser Kriegsveteranen, lange pensioniert, die eines Tages der Ruf zu den Waffen erreicht; nichts kann sie halten, ihre Herzen leben auf, sie legen ihre Werkzeuge nieder, verlassen ihre Häuser, ihr Land und ziehen los.
    Sie wollte sich zehntausend Dollar leihen; sie brauche es, sagte sie - du weißt, wie das Leben ist. Sie versprach, es zurück-zuzahlen.
    Zehntausend Dollar. Er wagte nicht, Lia davon zu erzählen; er wußte, was sie sagen würde. Der Materialismus im italienischen Leben, seine Härte durchdrang alles. Die Frau, die bei ihnen sauber machte, bekam zwanzigtausend Lire in der Woche, so viel, wie ein Paar Schuhe auf der Via Veneto kostete, nicht einmal so viel. Wie sollte er es ihr beibringen? Rom war eine südliche Stadt, eine Metropole, die sich auf den eisernen Achsen von Geld und Reichtum bewegte, die Banken sahen aus wie Leichenhallen. Sie fletschten die Zähne, wenn es um Geld ging, die

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