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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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du überhaupt?« sagte sie.
    Ihre Tochter erschien im Türrahmen. Sie hatte dünne Arme, einen sehnigen Körper, kleine Brüste. Ihre Augen waren von durchdringendem Blau.
    »Hallo, Kate«, sagte Viri.
    Sie war damit beschäftigt, an ihrem Daumennagel zu kauen. Ihre Füße waren bloß.
    »Ich sag dir, was es in Europa gibt«, fuhr ihr Vater fort. »Den Schutt gescheiterter Zivilisationen. Nachtclubs. Flöhe.«
    »Flöhe?«
    »Jivan ist da«, sagte Kate.
    Nora Marcel-Maas drückte ihr Gesicht an die Scheibe, um hinauszusehen.
    »Wo?«
    »Er ist eben gekommen.«
    Sie hörten, wie die Vordertür aufging. »Hallo«, rief eine Stimme.
    »Wir sind hier drin! « rief Marcel-Maas.
    Sie hörten ihn den Flur herunterkommen. Die Küche war der wärmste Raum der Scheune; das obere Stockwerk war nicht einmal beheizt.
    Jivan war klein. Er war dünn, wie die Jungen, die man in Mexiko und in Ländern weiter südlich auf den Marktplätzen herumlungern sieht. Er war einer dieser Jungen, aber mit Manieren, mit neu gekauften Kleidern.
    »Hallo«, sagte er, als er hereinkam. »Hallo, Kate. Wie schön du geworden bist. Laß dich ansehen. Dreh dich mal.« Sie tat es, ohne zu zögern. Er nahm ihre Hand und küßte sie wie einen Strauß Blumen. »Robert, deine Tochter ist wunderbar. Sie hat das Herz einer Kurtisane.«
    »Keine Bange. Sie wird bald heiraten.«
    »Ich dachte, das war nur auf Probe«, beschwerte sich Jivan.
    »Oder etwa nicht?«
    »Mehr oder weniger«, sagte sie.
    »Viri«, sagte Jivan. »Ich hab dein Auto gesehen. Deshalb
    hab ich angehalten. Wie geht's dir?«
    »Bist du mit dem Motorrad da?« fragte Viri.
    »Soll ich dir noch eine Fahrstunde geben?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Das war doch gar nichts, der kleine Unfall.« »Ich würd es ja gerne noch mal probieren«, sagte Viri. »Aber mir tun meine Rippen immer noch weh.« Jivan ließ sich etwas Wein einschenken. Seine Hände waren klein, seine Nägel gepflegt, sein Gesicht glatt wie das eines Kindes.
    »Wo bist du gewesen, in der Stadt?« fragte Marcel-Maas.
    »Wo ist Nora?«
    »Sie war eben noch hier.«
    »Ja, ich bin gerade zurückgekommen«, sagte Jivan. »Ich hab die Nacht dort verbracht. Ich war auf einer Art Empfang... was Libanesisches. Es ist spät geworden, und da bin ich dageblieben. Wißt ihr, amerikanische Frauen sind wirklich merkwürdig«, sagte er. Er setzte sich und lächelte höflich. Er erinnerte einen an Cafés und triste Restaurants, die nur die Unterhaltung erträglich machte. Er lächelte wieder. Er hatte kräftige Zähne. Er schlief mit einem Messer am Kopfende seines Bettes.
    »Ich hab da diese Frau kennengelernt«, sagte er. »Sie war die Exfrau von einem Botschafter oder so, blond, Mitte dreißig. Nach dem Fest waren wir in der Nähe der Wohnung, wo ich schlafen sollte. Da gab es eine Bar, und ich hab sie - wirklich ganz sachlich - gefragt, ob sie nicht Lust hätte, mit mir noch einen trinken zu gehen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was sie gesagt hat. Sie sagte: ›Ich kann nicht. Ich hab meine Tage.‹ «
    »Hast du nicht langsam genug von denen?« sagte Marcel-Maas.
    »Genug? Kann man je genug haben?«
    »Für dich sind sie alle wie Lucoum.«
    »Locoum«, korrigierte Jivan. »Rahat Locoum. Das ist türkischer Honig«, übersetzte er. »Macht sehr dick. Robert hört das Wort so gerne. Ich werd euch einmal etwas Rahat Locoum mitbringen. Dann wißt ihr, was es ist.«
    »Ich weiß, was es ist«, sagte Marcel-Maas.
    »Ich hab das schon oft gegessen.«
    »Aber nicht das echte Rahat.«
    »Das echte.«
    Jivan war sein Freund, sagte Marcel-Maas immer. Er hatte keine anderen Freunde, nicht einmal seine Frau. Er würde sich sowieso von ihr scheiden lassen. Sie war neurotisch. Ein Künstler sollte mit einer unkomplizierten Frau zusammenleben, einer Frau wie der von Bonnard, die ihm nur mit Schuhen bekleidet Modell stand. Der Rest würde sich ergeben. Mit dem Rest meinte er jeden Tag ein warmes Mittagessen, ohne das er nicht arbeiten konnte. Er setzte sich an den Tisch wie ein irischer Arbeiter, mit schmutzigen Händen, gesenktem Kopf; Kartoffeln, Fleisch, dicke Scheiben Brot. Er war schweigsam, er war kein Mann von Witzen, während er aß, wartete er, daß sich die Dinge von selbst lösten, daß sie zu etwas Unerwartetem und Interessantem wurden wie die Schicht feiner Bläschen auf dem Bein, wenn man badete.
    »Wo ist deine Mutter, Kate?« sagte er. »Wo ist sie schon wieder hin?«
    Kate zuckte mit den Achseln. Sie hatte die Gleichgültigkeit eines

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