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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Botenjungen, eines Menschen, dem man nichts anhaben konnte. Sie hatte ungeheizte Schlafzimmer durchlebt, unbezahlte Rechnungen, ihr Vater hatte sie verlassen, er war wiedergekommen, hatte ihr wunderschöne Vögel aus Apfelholz geschnitzt, sie bemalt und auf ihr Bett gelegt. Als sie ein Kind war, hatte er viel Zeit mit ihr verbracht. Sie erinnerte sich an manches. Sie hatte in den Wellen von Farbe gelebt, die er ausgesucht hatte, von ihnen angestrahlt wie von der Sonne. Sie hatte seine zerrissenen Zeichenhefte auf dem Boden liegen sehen, mit Fußabdrücken quer über den Seiten, sie hatte ihn betrunken in ihrem Zimmer gefunden, ausgestreckt auf dem Boden, mit dem Gesicht auf den dicken Fichtenbrettern. Sie konnte ihn niemals verraten; es war unvorstellbar. Er bat sie um nichts. All die Jahre hatte er Prügel bezogen, vor ihren Augen, wie bei einer Schlägerei auf der Straße. Er beklagte sich nicht. Manchmal sprach er über Malerei oder darüber, die Bäume zu beschneiden. In ihm steckte die Heiligkeit eines Mannes, der nie in den Spiegel sah, dessen Gedanken brillant, aber unaus-sprechbar, dessen Träume grenzenlos waren. Jeden Pfennig, den er jemals verdient hatte, hatte er ihnen gegeben, und sie hatten alles verbraucht.
    Ihr Freund in Kalifornien war Maler. Sie rauchten, tagelang ohne Unterbrechung, bei nicht endender Musik. Sie waren bis spät in die Nacht unterwegs, sie schliefen den halben Tag. Ihr Vater hatte sie nichts gelehrt, aber der Stoff, aus dem sein Leben bestand, war für sie der einzige, in dem sie sich wohlfühlte; sie trug ihn, wie sie manchmal seine alten Schuhe trug, er hatte sehr kleine Füße.
    »Also, wo ist sie?« fragte er. »Wenn man arbeitet, kann man sie nicht loswerden. Aber wenn man sie braucht, verschwindet sie. Warum gehst du nicht und sagst ihr, daß Jivan hier ist?«
    »Das weiß sie schon«, antwortete Kate.

11
    Jivan liebte Kinder. Sie zeigten ihm ihre Spiele, sie wußten, daß er sie schnell begriff. Er ließ sich nicht zu ihnen herab; er wurde selbst zum Kind. Er hatte Zeit dafür. Er verkörperte die einfachen Tugenden eines allein lebenden Mannes. Er hatte Zeit für alles - für's Kochen, für Pflanzen. Er wohnte in einem leerstehenden Laden, in dem früher einmal eine Apotheke gewesen war. Ein langes, heiteres Zimmer, das zur Straße hinausging, mit Bambus verhängte Fenster, die mit Pflanzen vollgestellt waren. Abends konnte man gerade so eben hineinsehen. Es sah wie ein Restaurant aus, in dem sich noch letzte Gäste aufhielten. An der Wand hing ein Rennrad. Ein weißer Schäferhund drückte die Schnauze still, ohne zu bellen, an die Türscheibe. Er hatte Vögel in einem Käfig und einen grauen Papagei, der die Flügel spreizen konnte.
    »Perruchio«, sagte er immer. »Mach den Engel.«
    Nichts.
    »Den Engel, den Engel«, sagte er. » Fa l'angelone.«
    Wie eine Katze, die ihre Krallen ausstreckt, breitete der Papagei langsam seine Flügel und Federn aus. Sein Kopf drehte sich ins Profil und zeigte ein schwarzes, herzloses Auge. »Warum heißt er Perruchio?« fragte Danny. Als sie versuchte, sich ihm zu nähern, rückte er Schritt für Schritt zur Seite.
    »Er hieß schon so, als ich ihn bekommen hab«, sagte Jivan. Er spielte mit ihnen Zwanzig-Fragen. Seine Ausbildung war die denkbar einfachste gewesen: sie stammte aus Büchern. Er las keine Romane, nur Zeitschriften, Briefe, die Biographien großer Männer.
    »Also«, sagte er. »Seid ihr soweit? Ich hab einen.«
    »Ein Mann«, sagte Danny.
    »Ja. «
    »Der noch lebt.«
    »Nein.«
    Eine Pause, während sie die Hoffnung aufgaben, daß es einfach sein würde.
    »Hatte er einen Bart?« Ihre Fragen waren immer indirekt. »Ja, einen Bart.«
    »Lincoln!« riefen sie.
    »Nein.«
    »Hatte er eine große Familie?«
    »Ja, groß.«
    »Napoleon!«
    »Nein, nicht Napoleon.«
    »Wie viele Fragen waren das?«
    »Ich weiß nicht - vier, fünf«, sagte er. Er brachte ihnen Geschenke mit, Schachteln, in denen teure Seifen eingepackt gewesen waren, Miniaturkartenspiele, kleine griechische Glasperlen. Es dämmerte, als er zum Abendessen eintraf, seine Schuhe knirschten auf dem kühlen Kies, in der Hand hatte er eine Flasche Wein. Es wurde Herbst; man spürte ihn in der Luft. Hadji lag auf der Seite im Schatten eines Buschs, dessen dunkle Blätter ihn berührten.
    »Hallo, Hadji. Wie geht's denn?« Er blieb auf ein paar Worte bei ihm stehen; als spräche er mit einer Person. Am Hinterteil des Hundes konnte man eine leichte Bewegung ausmachen,

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