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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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nicht mehr lange«, murmelte er.
    »Fühlen Sie sich besser?« fragten sie.
    Er schien sie nicht zu hören. Er war in ein unsichtbares Leichentuch gehüllt. Sein Mund war trocken. Wenn er sprach, war es nicht lauter als ein Murmeln, das kaum nach außen drang, kaum zu verstehen. Mehrere Male fragte er, welcher Tag es sei.
    Sie war erschöpft an diesem Abend, sie badete und ging zu Bett. In der Nacht wachte sie einmal auf. Der Himmel, die Straße draußen waren völlig still. Sie lag da, ruhig, allein. Die Katze war ins Zimmer gekommen, sie saß auf dem Fensterbrett und sah hinaus.
    Am Morgen war ihr Vater bereits ins Koma gefallen. Er lag hilflos da, er atmete gleichmäßiger, langsamer, auf seinen Augen lagen feuchte Gazetupfer. Sie rief ihn: nichts. Er hatte seine letzten Worte gesprochen. Plötzlich schnürte ihr die Trauer die Kehle zu. Ruhe in Frieden, Papa, dachte sie. Sie saß stundenlang an seinem Bett. Er war hartnäckig. Er war stark. Er konnte sie jetzt nicht mehr hören, nichts konnte ihn wecken. Seine Arme waren gebrechlich über seiner Brust verschränkt wie federlose Flügel. Sie wischte sein Gesicht ab, rückte sein Kissen zurecht. Viri rief am Abend an. »Hat sich was verändert?«
    »Ich werde etwas essen gehen«, erklärte sie. Sie sprach mit den Kindern. Wie geht es Grandpa, fragten sie. »Er ist sehr krank«, sagte sie.
    Sie waren höflich. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten. Es dauerte sehr lange, es dauerte eine Ewigkeit; Tag und Nacht der Geruch von Desinfektionsmitteln, das Wispern von Gummirädern. Diese zerbrechliche Maschine, denken wir, und doch, was für einer Gewalt bedurfte es, sie zum Stillstand zu bringen. Das Herz ist im Dunkeln, unwissend, wie diese Tiere in unterirdischen Gängen, die nie das Tageslicht erblicken. Es kennt keine Treue, keine Hoffnung; es hat seine Aufgabe.
    Die Nachtschwester horchte auf seinen Atem. Es hatte begonnen.
    Nedra beugte sich dicht über ihn. »Papa«, sagte sie, »kannst du mich hören, Papa?«
    Sein Atem wurde schneller, als fliehe er vor etwas. Es war sechs Uhr abends. Sie saß die ganze Nacht bei ihm, während er dalag und nach Luft rang, während sein Körper in der Gewohnheit eines ganzen Lebens weiterarbeitete. Sie betete für ihn, sie betete gegen ihn und dachte währenddessen, du bist die nächste, es ist nur eine Frage der Zeit, ein paar schnell verflogene Jahre.
    Um drei Uhr morgens brannte nur noch das Licht auf dem Tisch der Krankenschwester, kein Arzt war da. Die Korridore waren leer.
    Unten lag das dunkle, verarmte Städtchen, mit seinen bröckelnden Gehsteigen und den so dicht beieinander stehenden Häusern, daß man zwischen ihnen nicht einmal hindurchgehen konnte. Die alten Schulgebäude lagen still da, das Kino, die Fenster mit Metallplatten abgedeckt, die Veterans' Hall. Seine Mitte durchzog kein Fluß, sondern ein breites, stilles Bett von Gleisen. Die Schienen waren verrostet, die großen Werkstatthallen geschlossen. Sie kannte diese steil in den Hang gebaute Stadt, sie hatte keine Freunde hier, sie hatte ihr für immer den Rücken gekehrt. Irgendwo in ihr schliefen entfernte Cousinen, die sie nie aufsuchen würde.
    Sie hörte dem schrecklichen Kampf zu, der sich auf dem schmalen Bett abspielte. Sie nahm seine Hand. Sie war kühl; es war kein Gefühl darin, keine Antwort. Sie beobachtete ihn. Er kämpfte weit entfernt von ihr; seine Lungen kämpften, seine Herzkammern. Und sein Geist, dachte sie, woran dachte der jetzt, gefangen in seinem Körper, verurteilt? War da Harmonie in ihm oder Chaos, wie in einer fallenden Stadt?
    Seine Kehle füllte sich. Sie rief die Schwester. »Kommen Sie schnell«, sagte sie.
    Sein Atem war furchteinflößend, sein Puls schwach. Die Krankenschwester fühlte sein Handgelenk, dann seinen Ellbogen.
    Er starb nicht. Er fuhr mit dem schrecklichen Atmen fort. Die Anstrengung, die es ihn kostete, nahm ihr die Kraft. Es war, als könnte alles gut werden, wenn er nur damit aufhörte. Eine Stunde verging. Er wußte nicht, wie sehr er sich erschöpfte. Es war eine Art Wahnsinn, er lief und lief, war hundertmal gestürzt und hatte sich wieder aufgerafft. Nichts und niemand konnte eine solche Strafe aushalten. Kurz nach fünf tat er, abrupt, seinen letzten Atemzug. Die Schwester kam herein. Es war geschafft. Nedra weinte nicht. Sie hatte statt dessen das Gefühl, daß sie ihn nach Hause gebracht hatte. Plötzlich verstand sie die Bedeutung der Worte »in Frieden«, »in Ruhe«. Sein Gesicht war entspannt.

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