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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Er sah phantastisch aus, ich zeig dir mal ein paar Bilder.«
    »Du bist noch jung.«
    »Haben wir wirklich nur eine Jahreszeit? Einen Sommer«,
    sagte sie, »und dann ist Schluß?«

14
    Am Morgen, beim ersten Licht, verschlang ein mächtiger Wind – ein Wind, der Türen zuschlug und Glas zerbrach – die Stille in plötzlichen, überwältigenden Schlägen. Hadji verkroch sich in den Decken. Das Kaninchen kauerte mit angelegten Ohren neben seinem Stall. Es gab Pausen unheimlicher Stille und dann, manchmal eine halbe Minute lang, das gewaltige Brüllen der Luft. Es war, als ob die Wände ächzten.
    Obwohl der Himmel klar, obwohl es sogar warm war, tobte der Wind den ganzen Tag, riß an den Läden, wühlte in den Bäumen. Der wilde Wein richtete sich vor Entsetzen kerzen-gerade auf, schrie und wurde fortgerissen. Im Gewächshaus zersprangen die Scheiben mit musikalischem Klang. Es war ein Wind ohne Schärfe, ein riesiger, fressender Wind, der nicht aufhören wollte.
    Am späten Nachmittag kam ein Anruf. Er war aus einer anderen Stadt, man hörte einen merkwürdig mechanischen Ton. »Mrs. Berland?« fragte eine Männerstimme.
    »Ja.«
    »Mein Name ist Dr. Burnett.« Er rief aus Altoona an. »Ich dachte, ich sollte sie besser benachrichtigen«, sagte er. Ihr Vater ist im Krankenhaus. Er ist sehr krank. «
    »Was ist passiert?«
    »Sie wissen nichts von seinem Zustand?«
    »Nein, was hat er?«
    »Nun, er hat nach Ihnen gefragt, und ich denke, es wäre gut, wenn Sie kommen könnten.«
    »Wie lange ist er schon dort?«
    »Ungefähr fünf Tage«, sagte der Arzt.
    Sie fuhr am gleichen Abend. Sie machte sich eine Stunde vor der Dämmerung auf den Weg. Sibelius donnerte im Radio, der Wind schüttelte den Wagen. Sie fuhr an Schiffswerften vorbei, Raffinerien, pulsierenden, häßlichen Vororten, auf die sie nicht einmal einen Blick warf, vorbei an der Industrie, die ihr Leben versorgte. Autos strömten in beide Richtungen, die Lichter wurden heller. Die Dunkelheit brach herein. Sie fuhr durch, ohne anzuhalten. Die Radiostationen wurden schwächer, überlagerten, verschlangen einander. Es gab Böen von Musik, geisterhafte Stimmen; es war wie ein weiter, zerfallender Baldachin, wie undichte Dächer in einer ärmlichen Stadt, einer Stadt, die von billiger Reklame, Sentimentalitäten, gedanken-losem Krach überflutet wurde. Das Chaos erfüllte ihre Ohren, die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos stachen ihr in die Augen. Am Himmel hinter den schwarzen Bäumen glühte der Widerschein von Städten.
    Sie fuhr in die Dunkelheit, die Dunkelheit eines alten, müden Landes, das sorgsam zusammengehalten, verkauft und wiederverkauft worden war, sie fuhr, bis tiefste Nacht sie umgab. Die Straßen leerten sich. Sie überquerte den Susque-hanna, der still wie ein Teich war, als die ersten Wellen der Müdigkeit sie überkamen. Die Fahrt wurde zu einem Traum. Sie dachte an ihren Vater, an die Vergangenheit, in die sie zurückkehrte. Sie kannte die Hilflosigkeit und Verzweiflung, wenn man aufs neue eine endlose Reise antrat, eine Reise, die man bereits ein für allemal hinter sich gebracht hatte. Der lange weiße Tunnel am Blue Mountain glitt vorüber wie ein Kranken-hauskorridor. Dann Tuscarora. Die Namen hatten sich nicht verändert. Sie warteten auf sie, ihrer Rückkehr gewiß.
    Schließlich schlief sie ein paar Stunden, das Auto stand einsam auf einer bläulich beleuchteten Raststätte. Als sie aufwachte, war der Himmel im Osten schon hell. Sie fand sich in einer Gegend wieder, die ihr vage vertraut war: die Hänge der Hügel, die dunklen Bäume. Die Straße war sichtbar geworden, glatt und fahl, kein Haus oder Licht war in den Wäldern zu sehen, soweit das Auge reichte. Sie war wie elektrisiert; daß es doch immer so bliebe, dachte sie. Der frühe Tag, wie Morgengrauen auf See, überwältigte sie und schenkte ihr neues Leben.
    Bald kam sie an den ersten Farmen vorbei, an Scheunen, die in der Stille wunderschön aussahen, das Radio gab Preise durch, die Anzahl geschlachteter Schafe und Lämmer. Alte Häuser mit verblaßten roten Backsteinen, die einem ans Herz gingen, weiße Säulen auf den Veranden, die Bewohner noch im Schlaf. Der Himmel wurde immer bleicher, wie ausgewaschen. Plötzlich war alles farbig, die Felder wurden grün. Hilflos erkannte sie ihren Ursprung, obwohl sie jahrelang fern von ihm gewesen war, das leere, stumpfe Land, die Hügel, die zu Fuß zu erklimmen so lange

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