Lichtjahre
saß ruhig da, aber sie fühlte sich unwohl. Ihr waren Vertraulichkeiten unangenehm, besonders von Fremden. »Hier«, sagte Nora wieder.
Das Glas war gekühlt. »Mhm, sehr gut.«
Ruhig, wie Liebende, die die Augen aufschlagen, tauschten sie unabsichtliche Blicke.
»Ich bin froh, daß du da bist. Ich wollte dich einfach nur sehen. Weißt du, die Leute hier in der Gegend sind so lang-weilig.«
»Ja.« sagte Nedra. »Aber warum?«
»Sie sind in ihrem Leben steckengeblieben. Außerdem kenn ich sowieso keinen hier. Wir hatten fast nie Gäste. Na ja, es gibt da eine Frau, die heißt Julie«, sagte sie. »Kennst du sie? Sie verkauft Kosmetika. Früher war sie mal Stripteasetänzerin. Schmeckt dir der Kir?«
»Köstlich. Was ist das noch mal?«
»Wein und Cassis, ein klein wenig Cassis.« Nedra begutachtete die Flasche. »Wird aus Beeren gemacht«, sagte Nora. »Was für Beeren?«
»Ich weiß nicht. Französische. Ich wollte dir von Julie erzählen. Sie hat ein unglaubliches Leben gehabt. Sie ist öfter von Gangstern ins St. George Hotel mitgenommen worden. Ich mein, sie kann sie wirklich beschreiben. Ein Leibwächter hat sie dann nach Hause gebracht. Natürlich kannst du dir denken, was er mit ihr gemacht hat. Jetzt verkauft sie Gesichtscreme. Möchtest du noch einen? Du hast ja noch gar nicht ausgetrunken.«
»Noch nicht.«
»Komm, wir setzen uns ans Fenster. Da ist es schöner.« Als sie hinübergingen, klingelte das Telefon. Nora nahm abrupt den Hörer auf. »Hallo«, sagte sie. Sie hörte zu. »Es tut mir leid. Mr. Maas ist nicht hier. Mr. Maas ist in New York.« Sie hörte wieder zu. »New York, New York«, sagte sie.
»Einen Moment bitte«, sagte die Vermittlung. »Der Teilnehmer würde gerne Miss Moss sprechen. Ist Miss Moss zu Hause?«
»Miss Moss ist in Los Angeles, Kalifornien«, sagte Nora.
»Wer ist denn am Apparat?«
Nedra saß in einem bequemen Sessel, die Sonne fiel ihr auf die Knie. Das Fensterbrett war voller Pflanzen. Die Musik von halbvergessenen Broadwaymusicals lief im Hintergrund. Nora kam zurück, setzte sich und schloß die Augen. Sie begann zu summen, vereinzelt einen Satz mitzusingen, schließlich sang sie ganze Zeilen laut und leidenschaftlich mit. Dann stand sie plötzlich auf und begann, sich hin und her zu wiegen, zu tanzen. Sie warf die Hände nach vorne und zur Seite wie ein Revuegirl. Sie lachte unsicher, aber sie hörte nicht auf. Man sah das Leben, in dem sie aufgeblüht war, die Fröhlichkeit, die Albernheit, die aus ihr hervorquoll wie die Füllung aus einer Puppe.
»Früher kannte ich die Lieder alle auswendig«, gestand sie. Sie konnte kochen, sie hatte noch immer schöne Beine, was sollte sie machen, fragte sie, hier draußen bei den Apfelbäumen bleiben? Die meisten von ihnen waren sowieso so alt, daß sie keine Früchte mehr trugen.
»Ich lese gerne«, sagte sie, »aber, mein Gott...«
Sie habe geschickte Hände, sagte sie. Sie betrachtete sie, eine Seite, dann die andere, ein wenig rauh, aber sie können eine Menge. Na ja, das traf auf alles an ihr zu.
»Die Sache ist, ein Mann kann sich eine jüngere Frau nehmen, aber andersherum funktioniert das nicht.«
»Das funktioniert sehr wohl«, sagte Nedra.
»Glaubst du?«
»Natürlich.«
»Nein, nicht bei mir«, entschied sie. »Man muß daran glauben.«
Hier saß sie nun, allein auf dem Land. Im Obstgarten waren die Bäume; im Schrank saubere Gläser und Teller. Es war ein Haus aus Stein, ein Haus, das Hunderte von Jahren stehen würde, und darin waren Bücher und Kleider, die sonnigen Zimmer und Tische, die man zum Leben brauchte. Und eine Frau, ihre Augen waren noch klar, ihr Atem süß. Schweigen umhüllte sie, die Luft, die Stille des Grases. Sie hatte nichts zu tun.
»Ich bleib nicht hier draußen«, sagte sie abrupt.
Ein paar von seinen Sachen hingen noch in den Schränken, seine Leinwände waren noch im Atelier über ihnen. Sie konnte nicht bleiben. Die Abende waren zu lang, die Dunkelheit kam und erdrückte sie, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte.
»Es ist nicht fair«, sagte sie.
»Nein.«
»Was soll ich bloß tun?«
»Du wirst jemanden kennenlernen«, sagte Nedra. Bin ich so anders als diese Frau? dachte sie. Bin ich meines Lebens so viel sicherer? »Wie alt bist du?« fragte sie.
»Neununddreißig. «
»Neununddreißig«, sagte Nedra.
»Katy ist achtzehn.«
»Ich hab sie schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Ich hab mein Leben damit verbracht, für ihn zu sorgen«, rief Nora aus. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher