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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Bär. Man sah seine Unschuld - die Unschuld großer Schauspieler -, während er wach wurde. »Du hast aufgehört zu spielen, Kate«, sagte er.
    Sie fing wieder an. Sie schlug ein paar traurige Akkorde an, ihre schmalen Finger strichen langsam über die Saiten. Mit ihrer dünnen Mädchenstimme, den Kopf gesenkt, begann sie zu singen. Sie sang immer weiter. Sie kannte unendliche Worte, sie waren ihre wahre Eloquenz, die Gedichte, an die sie glaubte. The sheets, they were old, and the blankets were thin. ..
    »Mein erster Freund hat das immer gesungen«, sagte Nedra. »Er hat mich übers Wochenende zum Sommerhaus seiner Eltern mitgenommen. Es war nach den Ferien, sie waren alle weg.«
    »Wer war das?« sagte Viri.
    »Er war älter als ich«, sagte sie. »Er war fünfundzwanzig.«
    »Wer?«
    »Ich hab dort meine erste Avocado gegessen. Mit allem Drum und Dran. Sogar den Kern«, sagte sie.

DREI

1
    Mit sechzehn veränderte sich Franca. Sie begann ihr Versprechen einzulösen. Als wäre es über Nacht geschehen, in der Art wie Blätter erscheinen, war sie plötzlich selbstbewußt. Eines Morgens wachte sie mit diesem Selbstbewußtsein auf, es war ihr gegeben worden. Sie hatte nun Brüste, ihre Füße waren ein bißchen groß. Ihr Gesicht war ruhig und unergründlich.
    Sie waren sich nahe, Mutter und Tochter. Nedra behandelte sie wie eine Frau. Sie redeten viel miteinander. Die Welt verändere sich, erklärte ihr Nedra. »Ich meine damit nicht die Mode«, sagte sie. »Das sind nicht wirklich Veränderungen. Ich meine, daß man anders leben kann als früher.«
    »Zum Beispiel?«
    »Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst es merken. Du wirst es viel besser verstehen als ich. Ich weiß in Wirklichkeit nicht viel, aber ich spüre, wenn etwas in der Luft liegt.« Es gibt Wärme in Familien, aber selten Freundschaft. Sie sprach gerne mit Franca und redete auch gerne über sie. Sie fühlte, dies war die Frau, zu der sie selbst geworden war, so wie das Gegenwärtige das Vergangene verkörpern kann. Sie wollte durch sie das Leben neu entdecken, es ein zweites Mal genießen.
    Eines Abends während der Ferien gab Dana ein Fest. Dana, deren Gesicht schon einen merkwürdig toten, fast bitteren Ausdruck hatte - aber was konnte man erwarten, sagte Nedra, bei einem Trinker als Vater und einer Mutter ohne Verstand. Sie las an diesem Abend ein Buch über Kandinsky, einen schweren, schönen Band mit glattem Papier. Sie hatte seine Ausstellung im Guggenheim gesehen, und sie war von seinem Werk wie geblendet. In der Stille des Abends, in der Stunde, wenn alles erledigt ist, schlug sie den Band schließlich auf. Er hatte erst spät zu malen begonnen, las sie. Er war zweiunddreißig, als er anfing.
    Sie rief Eve an. »Ich finde das Buch wundervoll«, sagte sie. »Ich fand auch, daß es gut aussah.«
    »Ich hab gerade angefangen, darin zu lesen«, sagte Nedra. »Am Anfang des Ersten Weltkrieges lebte er in München, dann ging er nach Rußland zurück. Er verließ die Frau - sie war auch Malerin -, mit der er zehn Jahre zusammengelebt hatte. Er hat sie nur noch einmal wiedergesehen - stell dir das mal vor -, auf einer Ausstellung im Jahr 1927.« Das Buch lag auf ihrem Schoß; sie hatte nicht weitergelesen. Die Kraft, sein Leben zu verändern, kann sich aus einer Passage ergeben, einer Bemerkung. Die Zeilen, die uns treffen, sind schlank wie die Egel, die im Flußwasser leben und sich am Körper von Schwimmenden festsaugen. Sie war erregt, voller Kraft. Die Sätze waren, wie es schien, genau zur richtigen Zeit gekommen wie so viele andere Dinge. Wie können wir uns unser zukünftiges Leben vorstellen ohne die Inspiration durch das Leben anderer Menschen? Sie legte das Buch aufgeschlagen neben ein paar andere hin. Dort sollte es auf sie warten. Sie wollte nachdenken, dann zu ihm zurückkehren, es noch einmal lesen, weiterlesen, im Reichtum seiner Abbildungen baden. Franca kam um elf nach Hause. In dem Moment, als die Tür zuging, spürte Nedra, daß etwas nicht stimmte. »Was ist?« fragte sie.
    »Was ist was?«
    »Was ist passiert?«
    »Nichts. Es war schrecklich.«
    »Warum?«
    Ihre Tochter weinte plötzlich. »Franca, was ist los?«
    »Sieh mich doch an«, schluchzte sie. Sie trug ein Kostüm mit einem schmalen Pelzbesatz am Kragen und einem weiteren am Rocksaum. »Ich seh aus wie irgend so eine Puppe, die man in Souvenirläden kriegt.«
    »Nein, das stimmt nicht.«
    »Ich bin als erste gegangen«, sagte sie voller Verzweiflung.
    »Alle haben mich

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