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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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»Na ja, du vielleicht nicht.«
    »Die Hauptsache ist, daß sie Bescheid weiß.«
    »Sie weiß Bescheid. Ich hab ihr alles gegeben, was sie braucht.«
    »Was meinst du, Pillen?«
    »Sie wollte die Pille nicht nehmen«, sagte Nedra.
    »Ich verstehe.«
    »Ich finde das richtig. Sie wollte keine Chemie in ihrem Körper.«
    Plötzlich war er in Gedanken bei seiner Tochter. Sie war nicht weit weg, sie war in ihrem Zimmer, die Musik spielte leise, ihre Kleider waren ordentlich aufgehängt. Er dachte an ihre Unschuld, an die Fülle des Lebens, als wäre er von ihr überrascht worden wie von einer plötzlichen, unbemerkten Welle, die einen Spaziergänger am Strand erfaßt, seine Hose durchnäßt, sein Haar. Und doch, jetzt, da die Welle ihn traf, überkam ihn ein Gefühl von Zustimmung, sogar Freude. Er war vom Meer berührt worden, diesem mächtigsten aller irdischen Elemente, wie ein Mensch von der Hand Gottes berührt wird. Er brauchte diese Dinge nicht mehr zu fürchten.
    In dieser Nacht träumte er von einer Meeresküste, silbrig vom Wind. Kaya kam zu ihm. Sie waren in einem weiten Saal, allein, draußen fand eine Versammlung statt. Er wußte nicht, wie er sie überredet hatte, aber sie sagte: »Ja, gut.« Sie schlüpfte aus ihren Kleidern. »Aber abends mag ich es auch.«
    Ihre Hüften waren so wirklich, so blendend, daß ihn kaum Scham erfüllte, als seine Mutter vorbeiging und so tat, als sähe sie nichts. Sie würde es Nedra erzählen, sie würde es Nedra nicht erzählen, er konnte sich nicht entscheiden, er versuchte, sich keine Gedanken darüber zu machen. Dann verlor er diese strahlende Frau in der Menschenmenge vor einem Theater. Sie verschwand. Leere Zimmer, Korridore, in denen alte Klassenkameraden standen, ins Gespräch vertieft. Er ging an ihnen vorbei, auffallend allein. Am Morgen sah er sich Franca genauer an, aber unauffällig, er versuchte, sich ganz natürlich zu geben. Er sah nichts. Sie schien unverändert, wenn überhaupt liebevoller, mehr in Einklang mit dem Tag, der Luft, den unsichtbaren Sternen.
    »Wie geht's so in der Schule?« fragte er.
    »Sehr gut. Ich geh unheimlich gern hin«, sagte sie.
    »Dies Jahr ist das beste von allen.«
    »Das freut mich. Was magst du am liebsten?«
    »Na ja, von allem...«
    »Ja?«
    »Biologie.« Sie schlug mit dem Löffel auf die Spitze eines weichgekochten Eis, sie war sehr ordentlich angezogen, hatte ein klares Gesicht.
    »Und danach?« sagte er.
    »Ich weiß nicht. Ich denke Französisch.«
    »Würdest du nicht gerne dort ein Jahr aufs College gehen?«
    »In Paris?«
    »Paris, Grenoble. Es gibt viele Möglichkeiten.«
    »Ja. Also, ich weiß nicht, ob ich überhaupt aufs College will.«
    »Was meinst du damit?«
    »Reg dich nicht gleich auf«, sagte sie. »Ich mein nur, vielleicht will ich auf eine Kunstschule oder so was.«
    »Na ja, malen kannst du ja wirklich sehr schön«, gab er zu.
    »Ich hab mich noch nicht entschieden.« Sie lächelte wie ihre Mutter, geheimnisvoll, selbstsicher. »Wir werden sehen.«
    »Will Mark studieren?«
    »Er weiß es auch noch nicht«, sagte sie. »Kommt drauf an.«
    »Ja, verstehe.«
    Ihre Stimme klang so vernünftig.

5
    Im Herbst - es war Oktober, ein windiger Tag - fuhr sie zum Lunch zu Jivan. Der Fluß war von einem leuchtenden Grau, unter den Sonnenstrahlen glänzten die Wellen wie Schuppen.
    Er war umgezogen. Er hatte das kleine Steincottage gekauft, am Ende eines holprigen Weges, einer langen Auffahrt, die über einen Bach führte. Überall waren Bäume, die Sonne schimmerte durch sie hindurch. Sie trug ein weißes Kleid, wirkte kühl wie Obst.
    Der Glanz Kleinasiens erfüllte das Zimmer, als sie die Tür öffnete. Auf einem kleinen Tisch mit silbernen Beinen lagen, wie in einem Katalog, vollkommene ungebrauchte Gegenstände: Kunstbücher, Skulpturen, Kieselsteine, Schalen mit Perlen. An der Wand hingen Gemälde. Sie hatte den Raum eingerichtet; ihre Hand war in allem zu spüren. Die Sessel waren voller Kissen in wunderschönen Farben - Zitronengelb, Magenta, Rostbraun.
    Jivan kam auf sie zu. Er war höflich. »Nedra«, begrüßte er sie und streckte die Arme aus.
    »Was für ein schöner Tag.«
    »Wie geht's deiner Familie?«
    »Allen gut.«
    Ein Mann in dunklem Anzug, den sie nicht bemerkt hatte, saß still im Hintergrund.
    »Das ist André Orlosky«, sagte Jivan.
    Ein bleiches Gesicht mit starken Kieferknochen. Er trug eine Brille mit Goldfassung und eine Weste. Zwischen seiner Kleidung und seiner Person gab es eine

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