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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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viele.«
    »Nein. Ich kenn viele Leute, aber das heißt nichts. Ein Freund ist jemand, mit dem du wirklich reden kannst - auch weinen, wenn nötig. Ich habe nur sehr wenige. Einen.«
    »Mehr als einen.«
    »Nein.«
    »Also«, sagte Nedra. »Ich denke, man findet Freunde, wenn man sie braucht.«
    »Du bist so amerikanisch. Du denkst, daß alles möglich ist, daß alles schon kommen wird. Ich weiß, daß es anders ist.« Er war wie ein Verkäufer, der einen Auftrag verloren hat. Er hatte etwas Resignatives an sich; sein Aussehen, seine Gestik waren unverändert, aber irgendwie war die Energie verlorenge-gangen. Neben ihm, nachdenklich, wie ein Student der Theologie, wie ein Athlet - sie konnte ihn nicht genau beschreiben, sie hätte ihn gerne angestarrt und sich sein Gesicht eingeprägt -, saß ein Mann von - sie versuchte zu schätzen - zweiunddreißig, vierunddreißig Jahren? Ihre Blicke trafen sich kurz. Sie war schön, das wußte sie, ihr Hals, ihr breiter Mund, sie spürte es, wie man Stärke spürt. Sie war ziellos herumgeschwommen, bereit, im Meer zu verschwinden, und plötzlich saß sie bei einem sonnenbeschienenen Mahl, und das Licht funkelte ab und zu auf seinen Brillengläsern.
    Als sie ging, begleitete Jivan sie nach draußen.
    »Es war wie die Essen, die wir früher hatten«, sagte sie.
    »Ja. Ein wenig. «
    »Ich mag deinen Freund.«
    »Nedra, ich muß dich sehen.«
    »War das nicht sehr schön heute?«
    »Ich vermisse dich schrecklich.«
    Sie sah ihn an. Seine Augen waren schwarz, unsicher. Sie küßte ihn auf die Wange.
    Sie fuhr durch das herbstliche Sonnenlicht. Die Pferde, an denen sie vorbeikam, waren friedlich, streunten langsam umher, lichtgebadet. Es war der strahlendste Tag des Jahres. Die Bäume waren ruhig, empfindsam. Der Himmel schien unendlich tief, mit einem Übermaß von Licht. Sie saß in dem weißen Sessel und las. Verlassene Städte, die weit oben am Amazonas lagen, Städte mit Opernhäusern, mit großen europäischen Bauten, die im Urwald gestrandet waren. Sie malte sich aus, dort hinzureisen, als Gast in den alten Hotels zu wohnen. Am frühen Morgen ging sie spazieren, wenn die Straßen kühl waren, das Klappern ihrer Absätze auf dem Pflaster klang wie Händeklatschen. Die Stadt war grau und silbern, der Fluß dunkel. Vor dem Abendessen saß sie vor Spiegeln, die ihr Gesicht noch nie zuvor gesehen hatten, und machte sich zurecht. Auf den Zuggleisen fuhren Autos ohne Reifen, die Gehwege waren mit Mosaiken verziert, in den schummrigen Cafés saßen Huren, die aussahen wie Eve mit zwanzig. Sie flog nach Brasilien, so wie Licht fliegt, wie die Worte eines Liedes ins Herz treffen. Sie trug das weiße Kleid, das sie zum Lunch getragen hatte, sie hatte die Schuhe ausgezogen. Der Winter dieses Jahres rückte heran, der Winter ihres Lebens. Dort war Sommer. Man überschritt eine unsichtbare Grenze, und alles war ins Gegenteil verkehrt. Die Sonne flutete herab, ihre Arme waren gebräunt. Sie war eine Frau aus einem fernen Land, schon halb Legende, unbekannt. Sie verlor sich in den Phantasien, die sich vor ihr ausbreiteten; es war eine Flut von Zufriedenheit. Um vier Uhr, gedämpft wie das Klingelzeichen zur Pause in einem Konzert, läutete das Telefon. Sie stand auf, nahm den Hörer ab.
    »Nedra?«
    Sie erkannte die Stimme sofort. »Ja.«
    »Hier ist André Orlosky.«

6
    Die Sonne steigt auf, ohne Körper, ohne Wärme, blaß, heiter. Das Wasser liegt wie tot. Die Anlegebrücken spiegeln sich dunkel auf seiner Oberfläche, die Wimpel hängen schlaff. Der Fluß ist englisch, kühl wie Silber. Auf dem Rasen liegt ein Körper. Es ist Mark, er schläft. Er ist vor Tagesanbruch gekommen, aus New Haven, und liegt unter ihrem Fenster, eine Ansammlung langer, knochiger Glieder in seinen Kleidern.
    Nedra, die früh aufgestanden ist, beobachtet ihn von oben. Er schläft friedlich, sie bewundert diesen einfachen Akt. Ihre Gedanken strömen auf ihn herab, sie stellt sich vor, daß er sich unter ihnen regt, lebendig wird, die Augen langsam öffnet, die ihren sieht. Er ist jung, anmutig, voller abrupter Ideen. Er sucht das Kommende, unruhig fährt er lange Strecken, forscht überall. Zu sehen, wie er sich ausruht, heißt, ihn für einen Moment wägen und prüfen zu können, er ist sonst unerreichbar, er läuft, lacht, verschwindet hinter dem Gesicht der Jugend.
    Sie legte sich auf den Boden und begann mit ihren Übungen: zuerst eine tiefe Entspannung, Arme, Schultern, Knie. Sie hatte einen Yogi in der

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