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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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dessen Gegenwart gerade spürbar zu werden begann, der noch keine Nachrichten am Telefon hinterließ oder an ihrem Tisch saß, antwortete Nedra ruhig, daß sie ihn interessant finde.
    Sie waren allein in der Küche. Der Herbst erfüllte die Luft.
    »Wie interessant genau?«
    »Ach, Viri, du weißt schon.«
    »So interessant wie Jivan?«
    »Nein«, sagte sie. »Um ehrlich zu sein, nein.«
    »Ich wollte, es machte mir weniger aus.«
    »Es ist nicht so wichtig«, sagte sie.
    »Diese Dinge ... Ich bin sicher, du weißt, daß diese Dinge, wenn man sie offen tut ...«
    »Ja?«
    »... tiefe Auswirkungen auf die Kinder haben können.«
    »Ja, daran hab ich auch schon gedacht«, gab sie zu.
    »Getan hast du aber nichts dagegen.«
    »Ich hab eine Menge getan.«
    »Soll das ein Witz sein?« rief er aus. Er stand abrupt auf, sein Gesicht war weiß, und ging ins andere Zimmer. Sie konnte hören, wie er eine Nummer wählte.
    »Viri«, sagte sie durch die Tür, »aber ist es denn nicht besser, jemand zu sein, die ihren Gefühlen folgt und glücklich und großzügig ist, als eine verbitterte Frau, die treu bleibt? Sag mir das.«
    Er antwortete nicht. »Viri?«
    »Was?« sagte er. »Es tut mir leid, mir wird schlecht bei dem
    Thema.«
    »Am Ende gleicht sich alles aus.«
    »Meinst du, ja?«
    »Eigentlich ist es auch überhaupt nicht so wichtig«, sagte
    sie.

7
    Danny erwischte es wie einen Vogel, den die Katze fängt. Es war Winter. Sie war mit einer Freundin unterwegs. Vor dem Filmore trafen sie Juan Prisant auf der Straße. Er trug einen groben weißen Pullover, keine Jacke. Es war kalt. Die Zähne in seinem bärtigen Mund waren makellos; sie waren wie die weichen Hände, die einen Aristokraten auf der Flucht verraten. Er war dreiundzwanzig. Sie war auf der Stelle bereit, die Schule zu vergessen, ihren Hund, ihr Zuhause. Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, so wie es jemand, den das Schicksal trifft, auch nicht anders erwartet. Sie wußte, sie war zu jung, zu bürgerlich; sie war für ihn nicht interessant genug. Sie trug einen Mantel, den sie haßte. Sie starrte auf das Trottoir, hin und wieder traute sie sich, den Blick zu heben, um sich eines Gesichts zu vergewissern, das sie mit seiner Kraft blendete. Was sie auch tat, sie konnte es sich scheinbar nicht einprägen, sie konnte es nicht lange anstarren, es blendete sie wie die Sonne. Er strahlte eine Energie aus, die sie erschreckte und alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf vertrieb.
    »Wer war das?« fragte sie danach.
    »Ein Freund von einem Freund.«
    »Was macht er?« Ihre Fragen waren hilflos, sie schämte sich ihrer.
    Er wohnte in der Fulton Street. Bei der ersten Gelegenheit blätterte sie fiebrig durchs Telefonbuch: da stand sein Name. Ihr Herz klopfte wie wild, sie konnte ihr Glück nicht fassen. Sie war noch nicht näher dran, aber sie hatte ihn nicht verloren, sie wußte, wo er war.
    Liebe muß warten; sie muß einem die Knochen brechen. Sie sah ihn nicht, sie konnte sich keinen Zufall ausmalen, der ein Treffen bewirkte. Schließlich - es gab keinen anderen Weg - rief sie ihn unter einem Vorwand an. Seine Stimme war verwundert, kalt.
    »Wir haben uns vorm Filmore getroffen«, sagte sie unbeholfen.
    »Ach ja. Du hast einen lila Mantel.«
    Sie distanzierte sich eilig von ihrem Mantel. Sie sei heute in seiner Gegend, sie hätte sich gedacht, könnte sie vielleicht ...
    »Ja, in Ordnung. «
    Sie hatte in ihrem Leben nie einen glücklicheren Moment gekannt.
    Sie trafen sich in einer Bar an der Ecke, ein langer, altmodischer Raum, wie es sie früher überall in der Stadt gegeben hatte, der Fliesenboden war abgetreten, die Theke verlassen. Im Hinterzimmer war jetzt eine Küche untergebracht. Es roch nach Suppe. Er saß an einem Tisch.
    »Immer noch derselbe Mantel«, sagte er.
    Sie nickte. Der verhaßte Mantel.
    »Willst du irgendwas?« fragte er. »Eine Suppe?«
    Nein. Sie konnte nichts essen, wie ein Hund, der verkauft worden war.
    »Und was machst du so? Arbeitest du?« fragte er.
    »Ich geh zur Schule.«
    »Wozu?«
    »Ich weiß nicht«, sagte sie.
    »Also komm.«
    Ein Nachmittag im Winter, leuchtend und kalt. Sie über-querten eine breite Straße, fast einen Platz, mitten darauf hockten Möwen. Möwen saßen auf Giebelspitzen, die weiß vom Vogeldreck waren.
    Sie gingen schnell, dann fingen sie an zu laufen. Sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie liefen an schmutzigen Ladenfassaden vorbei, nahmen Abkürzungen über leere Grundstücke, wo er das Holz für seine

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