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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Stadt gefunden, Vinhara. Sie ging viermal die Woche zu ihm. Er hatte eine Glatze, darum einen fettigen Kranz langer Haare. Er ging in fließenden Gewändern umher. Er hatte eine sichere, bestimmte Stimme. »Waaser reinicht de Köper«, sagte er. »Waaheit reinicht de Geist.«
    Er war dunkel. Er hatte eine breite narbige Nase, riesige Hände, seine Ohren waren behaart wie die einer Katze. Weisheit reinicht de Veestaad; Meditation reinicht de Seele. Seine Wohnung roch nach Weihrauch. Die Küche war vol' 1er schmutziger Pfannen. Er schlief auf einer Matratze auf dem Boden. In einer Ecke stand eine zerbeulte Kleiderpuppe, die er manchmal mit einem Stock schlug. »Übung«, erklärte er.
    Eine Stunde lang überließ sie sich ihm, sie fühlte sich wärmer, geschmeidiger und nahm die einzelnen Teile ihres Körpers wahr, als würden sie ihr auf einer Karte gezeigt. Dann, entspannt, ganz wach, ging sie die paar Häuserblocks weiter zu Andres Apartment. Er erwartete sie; er wußte fast auf die Minute genau, wann sie da sein würde.
    »Manchmal denk ich«, sagte sie zu ihm, »wenn du auf der West Side wohntest, täte ich das hier nicht.«
    »Auf der West Side?« »Nicht nur da. Irgendwo anders.«
    Er hatte drei Zimmer, sauber, sorgfältig eingerichtet, alles an seinem Platz. Musik lief: Petruschka, Mahler. Die Jalousien waren schon zugezogen.
    Ihrem Mann gegenüber war sie verständnisvoll, sogar zärtlich, obwohl sie nebeneinander schliefen, als hätten sie ein Abkommen getroffen; nicht einmal ein Fuß berührte den anderen. Es gab ein Abkommen, es war die Ehe.
    »Wir müssen davon sprechen wie von einer Toten«, erklärte sie ihm.
    Überall um sie an diesem Morgen war das Herbstlicht, es kam durch alle Fenster, die Luft selbst schien zu strahlen. Die harten gelben Äpfel lagen auf dem Tisch, die Blätter der Zeitung.
    »Nedra, es ist ganz offensichtlich nicht tot.«
    »Möchtest du Toast?«
    »Ja. Danke.«
    »Doch, es ist tot«, sagte sie.
    Mark kam herein. Er war oben in Francas Zimmer gewesen; er hatte sich die Hände gewaschen, seine Ärmel waren hochgekrempelt. Sie frühstückten und sprachen über das Wetter, über die ersten schwachen Gelbtöne, die jetzt in den Wäldern erschienen. Es war noch kein Laub gefallen. Der Boden war trocken. Die Erde noch warm.
    »Du hast dir da draußen hoffentlich keine Erkältung geholt?« fragte Viri.
    »Nein.«
    »Also, ich leg mich da auch manchmal schlafen«, gab Viri zu. »Aber tagsüber.«
    »Das Gras ist schön«, sagte Mark.
    Nedra brachte ihnen Toast und Butter, Feigen, Tee. Sie setzte sich. »Es ist wie ein verbranntes Foto«, sagte sie ruhig. »Manche Teile sind noch da. Der Hauptteil ist für immer verloren.«
    Viri lächelte schwach. Er antwortete nicht. »
    Wir reden über die Ehe«, sagte sie zu Mark.
    »Die Ehe ...«
    »Denkst du manchmal darüber nach?«
    Er zögerte. »Ja«, sagte er schließlich.
    »Wahrscheinlich nicht oft«, sagte sie. »Aber wenn du erst mal verheiratet bist, wirst du reichlich darüber nachdenken.«
    »Guten Morgen, Papa«, sagte Franca. Sie war noch etwas ver-schlafen, als sie sich neben ihn setzte. Sie begrüßten sie; sie war rehhaft, warm, ihr Lächeln sagte alles, sie saß da und fühlte sich wohl. Ihr Leben gehörte ihr, aber es war tief mit diesen anderen Leben verknüpft: dem ihres koboldhaften Vaters, dem strahlenden Lächeln ihrer Mutter. Sie war wie ein junger Baum, der bescheiden im Sonnenlicht auf einer Lichtung steht, anmutig und für sich, aber das Moos der darumliegenden Erde, die Steine, vergrabenen Wurzeln, die fernen Höhlen, der Wald - all das übte seinen Einfluß aus und sprach noch zu ihr.
    Auf der Küchentheke stand eine Glasschale, grün wie das Meer, gefüllt mit gebleichten Muscheln - Überreste des Sommers. Drei Fotos, von drei unterschiedlichen weiblichen Augen, waren übereinander an die Wand geheftet. In einem alten Goldrahmen hingen Schlüssel. Vogelzeichnungen waren da, wunderschöne Onyxeier, eine gerahmte Postkarte von Gaudi an einen Mann namens Francisco Aron. Sie sprachen über den Tag, der vor ihnen lag, als verbände sie nichts als Glück. Diese sanfte Stunde, dieser behagliche Raum, dieser Tod. Denn das alles, alle Teller, Dinge, Geräte, Schalen illustrierten, was nicht mehr existierte; es waren Bruchstücke aus der Vergangenheit, Scherben eines verschwundenen Ganzen.
    Wir leben die Unwahrheit inmitten von Beweisen der Unwahrheit. Wie sammeln sie sich an, wie kommen sie zustande? Als Viri André erwähnte,

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