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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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zwölf absolut reinen Männern, die für die Welt von essentieller Bedeutung sind?«
    »Sag mir schon die Pointe.«
    »Nein, das hier ist eine Art Scholem-Alejchem-Geschichte. Diese zwölf Männer - du mußt die Geschichte doch kennen - sind über die ganze Welt verstreut. Niemand weiß, wer sie sind, aber wenn einer von ihnen stirbt, wird er sofort durch einen andern ersetzt. Ohne sie würde die Zivilisation zusammenbrechen, wir würden im Chaos versinken, im Verbrechen, in völliger Desillusion.«
    »Das ist wahrscheinlich schon passiert, es sind nur noch vier oder fünf übrig.«
    »Ich hab einen getroffen.«
    »Darum geht's also.«
    »Sein Name ist Conrad.«
    »Conrad? Machst du Witze? Das ist ein Betrüger.«
    »Nein, ich meine einen anderen Conrad. Du mußt ihn kennenlernen.«
    »Du weißt, was das letzte Mal dabei rausgekommen ist, als du das gesagt hast?«
    »Laß mich nachdenken.«
    »Ich habe fünfhundert Dollar in einen Film investiert.«
    »Ah ja, ich erinnere mich.«
    »Conrad, sagst du? Was soll der Kerl mir denn Gutes tun?«
    Viri beobachtete den Straßenverkehr, dessen Geräusche gedämpft zu ihm drangen und der das Metall unter seinen Füßen vibrieren ließ, sein Blick wurde von den glänzenden Autos in die Ferne gezogen.
    »Er wird dir ein paar Hemden machen. «

4
    Der Winter kommt. Eine bittere Kälte. Der Schnee knirscht mit traurigem vollem Klang unter den Sohlen. Das Haus ist von Weiß umgeben. Stunden des Schlafes, die Luft kühl. Wunderbarer Schlaf, ist der Tod so warm, so wohlig? Er ist kaum wach; beim ersten Licht taucht er einen Moment lang auf, wie instinktiv, begraben, verloren. Seine Augen öffnen sich einen Spalt wie die eines Tieres. Einen Moment lang entgleitet er den Träumen, er sieht den Himmel, das Licht, nichts bewegt sich, man hört keinen Laut. Die Stunde, die die letzte Stunde ist, die Kinder schlafen, das Pony steht still in seiner Box. Der Fluß war zugefroren. Sie erfuhren es am Telefon. »Ist er wirklich zugefroren?«
    »Ja«, versicherte man ihm. »Die Leute laufen Schlittschuh.«
    »Das machen wir auch.«
    Unten hinter der Brücke erstreckten sich am Uferrand weite glatte Eisflächen, einige Leute waren schon draußen, Männer in Mänteln, gegen die Kälte warm eingepackte Frauen. Sie liefen in blendendem Sonnenlicht, Schals um den Hals gewickelt, sie riefen einander zu, die Knöchel der kleinsten Kinder knickten um wie Papier. Weit draußen in der Fahrrinne war der Fluß grau, die Schattierung von zerbrochenem Eis. Es ging ein Wind, ein kalter Wind, der die Fingerspitzen verbrannte. Das kleine Mädchen, das nur ein Bein hatte, war da. Sie war drei, sie hatte Krebs, man hatte ihr das Bein abgenommen. Davor war sie unsichtbar gewesen. Danach, auf Krücken, begann sie zu leuchten; sie brauchte sehr lange, wenn sie auf dem Gehweg an einem vorbeiging, oder sie saß im Auto, außerstande, es zu verlassen, ihr kleines Gesicht bewegungslos im Profil. Sie hieß Monica. Sie hatte zwei Brüder, ihre Zähne waren klein, sie lächelte nie. Sie war die Märtyrerin einer verzweifelten Familie; sie haßten sich, wenn sie ungeduldig mit ihr waren. Sie wohnten in einem häßlichen Haus, es hatte die Farbe von Frostbeulen, ein Backsteinhaus mit ein paar kahlen Büschen an den Hausecken. In der stechenden Kälte zog ihr Vater sie in einem großen runden Aluminiumbehälter über das Eis. Sie saß ernst da, sagte nichts, hielt sich mit ihren Handschuhen am Rand fest. »Hallo, Monica«, riefen sie ihr zu. Sie kreisten um sie herum und winkten. Sie schien es nicht zu sehen; sie war regungslos wie eine alte Frau, die schon zu lange gelebt hat. »Halt dich fest«, riefen sie ihr zu. »Halt dich ganz fest.« Ihr Vater war barhäuptig. Viri kannte ihn nur vom Sehen. Er arbeitete für eine Versicherungsgesellschaft und fuhr jeden Tag in die Stadt. »Halt dich fest, Moni«, sagte er ihr. Er setzte zu einer großen Kurve an. Die Schale schwang herum, kippte ein wenig.
    »Halt dich fest«, riefen sie.
    Stimmen durchkreuzten die Luft, Rufe, das Kratzen von Schlittschuhen. Niemand konnte sich daran erinnern, daß man jemals so weit hinauslaufen konnte; das Eis war noch eine halbe Meile vom Ufer fest. Ein paar Leute hatten am Ufer Lagerfeuer angezündet und standen um sie herum, wärmten sich, noch in Schlittschuhen. Hunde versuchten, auf dem Eis herum-zurennen.
    Nedra war nicht mitgekommen. Sie war in der Küche. Das Feuer brannte. Sie hatte warme Milch in eine Schale gegossen, und der Welpe trank mit

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