Lichtjahreweit
Türen, in das unirdische Verlies, das noch aus der finstersten aller Epochen der Erdgeschichte stammte, aus der Zeit, als die Eisenmänner statt Städte Schlachthäuser errichtet und jedes zweite Menschenkind an Fleischerhaken gehängt und die Jungen und die Mädchen gleichermaßen tranchiert hatten.
Nicht einmal Calhan hätte ein derartiges Gefängnis ersinnen können, obwohl er zuweilen der Wahrheit sehr nahekam, wie er da in all seiner Verderbtheit im Dom aus Stahl und Stein residierte, unter der Kuppel aus lebendem Gebein, unter der jammernden Decke, die sich über seinem Bett wölbte. Die Decke bestand aus Bäuchen und Gesichtern, aus Schenkeln und Brüsten und Knöcheln, aus Zehen, Knien und Armgelenken, aus Augen groß und klein, all das versiegelt hinter einer hauchdünnen Schicht aus konservierendem Leim. Kein Mensch konnte unter einer solchen Decke bei klarem Verstand bleiben.
Eine derartige Decke verlangte nach Wahnsinn und verdrehten Gedanken, nach Grausamkeit und verschrobenen Phantasien, nach all den Dingen, über die Calhan im Überfluß verfügte.
Und dennoch – die hier fleischige, dort knöcherne, da haarige Kuppeldecke war nicht das Schlimmste unter dem Rund der kirschroten Sonne. Sie krönte nur den Dom aus Stahl und Stein, und der Dom barg in seinem hohlen Innern weit scheußlichere Schätze. Denn unter der Erde, in chthonischer Stille, tiefer als die tiefsten Keller, entlegener als die entlegensten Katakomben, dort unten, wohin selbst die Knochentreppe nur widerwillig hinabstieg, dort lag aufgebahrt in toter Nacht der rostige Kadaver eines Eisenmannes.
Eines Eisenmannes.
Calhan fürchtete sich vor nichts und niemand in Nyanderhen. Er sagte nicht nein, als der Befehl an ihn erging. Er ließ sich mit Lyzis ein und stahl ihr ein Bein. Er begleitete Than Mayen zum Glaspol, in den Quarzfjord, bis hin zum Kerker. Nur eines wagte er nicht: Zum Eisenmann hinabzuklettern. Er hatte Mauern errichtet und Fallen aufgestellt und Irrwege angelegt. Er hatte Gruben gegraben und Gift gestreut und Säure verspritzt, aus Furcht, der Eisenmann könnte eines Tages, unbemerkt, ungebeten, aus seinem rostigen Schlaf erwachen und hinauf zur Kuppel aus Gebein steigen und ihm den Garaus machen.
Nicht die Lebenden fürchtete Calhan, sondern die Toten.
Erst die Gehirne bewiesen ihm, daß er sich irrte.
III
Der Befehl erreichte Calhan in Gestalt seiner selbst.
Wie immer, wenn der Tyrann nach mühevollem Tagwerk, nach fiebriger Suche in der Düsternis der Keller und Katakomben die Knochentreppe erklommen hatte und heimgekehrt war in das vertraute Gewisper und Geraune der lebenden Kuppel, warf er noch einen langen, verdrossenen Blick über das Blumenmeer von Nurmus Mu. Er haßte die Blumen. Er verabscheute ihre Farben, die spielerisch wippenden Kelche, das orffsche Getratsche ihrer Blüten, die nicht einen Moment lang Ruhe gaben und gemeinsam mit den Winden ganze Symphonien komponierten. Er haßte die Blumen, doch er verbot den Faktoten, Hand an sie zu legen, denn die Blumen lockten mit ihrer Musik die Träumer an, die ewigen Narren, die aus ganz Nyanderhen herbeiströmten, weil sie sich nicht mit dem zufriedengeben wollten, was ihnen die Wälder und Hügel und die Berge im Norden an Träumen schenkten, und die kaum, daß sie die Ebene betreten hatten, von dem Blütenchor verzaubert und ohne viel Federlesens von den toten Dienern des Tyrannen gepackt und in den Dom verschleppt wurden, um ihn nie wieder zu verlassen. Die Blumen musizierten und die gewaltige rote Sonne sank und ihr Licht bemalte die Ebene und die fernen Felsklippen der Berge mit Tupfern aus Rot, einem Rot, das jetzt in der Abenddämmerung zu fahl war, als daß man es mit Blut vergleichen konnte, und griesgrämig schüttelte Calhan den Kopf.
»Du wirst dich nicht weigern«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm. »Dies ist ein Befehl und du wirst den Befehl ausführen. Du hast keine Wahl und du weißt es. Du wirst Nyanderhen verlassen und nach Qu’ail ziehen und dann weiter zur Stadt Hai Zun im Land Mirsingval. Dort wirst du dich zu dem Mann Than Mayen begeben. Du wirst ihn nicht töten. Du wirst ihn dazu bringen, dir zu folgen, und du wirst ihn zu einem Ort führen, der dir noch genannt wird, und wenn du all dies vollbracht hast, kehrst du heim nach Nyanderhen. Das ist alles. Dein Lohn ist dein Leben. Es ist mehr, als du verdienst.«
Calhan sagte nichts.
Er dachte: Tötet ihn.
Und er wartete. Darauf, daß die Faktoten seinen Befehl
Weitere Kostenlose Bücher