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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Palast wie Mäuler klafften.
    Jahrein, jahraus saß Lyzis in ihrem Palast, so wie Calhan jahrein, jahraus unter der Kuppel aus lebendem Gebein gesessen hatte.
    Vielleicht war Lyzis älter als Calhan.
    Vielleicht war sie sogar älter als die ranzigen, grauen Gehirne auf dem höchsten Gipfel der Kronberge, wie die faulen Zellklumpen, die ungeduldig der Vollstreckung des Urteils gegen Than Mayen harrten.
    Niemand wußte es.
    Niemand wollte es wissen.
    Und niemand kannte die Anmut von Lyzis’ Gesicht, ihres schmalen, weißen Gesichts, das keiner Falte und keiner Runzel gestattete, die Glätte der Haut mit den verräterischen Malen der Zeit zu überziehen. Niemand kannte ihre Augen, die im Lauf der ewigen Nacht über Qu’ail ausgebleicht waren und nun wie die farblosen Bäuche kleiner mandelförmiger Fische aussahen. Niemand kannte das Lächeln, das um die Striche ihrer blutleeren Lippen spielte, das rätselhafte Lächeln, das ihre scharfen Zähne entblößte und das allein der Finsternis galt. Und niemand kannte die Schwanengeschmeidigkeit ihres Halses, die Ebenmäßigkeit ihrer Schultern … die schlaffen Beutel ihrer Brüste, den aufgeblähten Sack ihres Leibes, die Ranzigkeit ihres Schoßes … die fleischige Festigkeit ihrer langen Beine, ihre formvollendeten Schenkel, ihre schmalen Fesseln, ihre zierlichen Füße, ihre zarten Zehen.
    Die augenlosen Menschen von Qu’ail kannten nur die Stimme der Lady Lyzis.
    Es war eine reizende Stimme: Sie klingelte wie ein Glockenspiel aus feinstem Glas; sie trommelte und schellte wie ein Tamburin aus Porzellan; sie zwitscherte und trillerte wie eine Pfeife, der man die Sprache der Singvögel beigebracht hatte. Keiner, der diese Stimme hörte, mochte glauben, daß sie die Stimme eines Ungeheuers war, und selbst jene, die es wußten, zweifelten jedesmal aufs neue, wenn sie ihren Klang vernahmen.
    Lyzis lebte allein in ihrem Palast.
    Sie brauchte keine Gesellschaft, denn die Nacht war ihr Gesellschafter, und sie sprach zu ihr mit schwarzer Stimme, küßte sie mit schwarzem Mund und tröstete sie mit schwarzen Träumen.
    Sie brauchte keine Diener, denn die Nacht diente ihr und brachte ihr mit finsteren Händen alles, was sie begehrte.
    Nicht einmal Köche brauchte Lyzis, trotz ihres Hungers, ihres unersättlichen Hungers, denn die Nacht tafelte ihr die Speisen auf, servierte ihr die Mahlzeiten in Gestalt jener Einfaltspinsel, die Qu’ail vertrauten und sich auf ihren Wegen durch die lichtlose Stadt an den Wänden und an den Mauern entlangtasteten, ohne zu ahnen, daß der schwarze Verputz der Fassaden ein Verbündeter der Finsternis war und sie geradewegs zu den Gruben um Lyzis’ Palast führte.
    Und wenn Lyzis speiste, dann musizierten ihre Mahlzeiten und intonierten in der Düsternis des Palastes auf den Instrumenten der Stimmbänder Melodien des Schmerzes, des Entsetzens, Elegien der Verzweiflung, des Todes. Manchmal, wenn Lyzis ausgiebig dinierte, über die Terrinen, Platten und Teller gebeugt maßlos schlemmte und ein Mahl mit sechs oder zwölf Gängen zu sich nahm, und wenn sich nach und nach die einfachen Weisen zu einem Kanon verwoben, dann hungerte sie lange Minuten oder gar Stunden, um nicht durch fleischliche Gier den Genuß der reinen Kunst zu schmälern.
    Seltsam, daß allein Lyzis die Symphonien ihrer menschlichen Instrumente zu schätzen wußte.
    Seltsam, daß die augenlosen Menschen von Qu’ail ihre blinden Gesichter und ihre empfindlichen Ohren mit den Händen bedeckten, wenn die Choräle und Hymnen die dicken Knochenmauern des Palastes durchdrangen und dann in den Gassen hallten, in allen Winkeln tönten und sich erst allmählich in den Kellern und Tunnelröhren verliefen.
    Und noch seltsamer, daß manche von Liyzis’ Untertanen versuchten, in diesen Stunden die Stadt zu verlassen, über die Wälle zu steigen oder durch das Tor zu schleichen, sich durch den Rauch zu tasten, wo sie doch trotz ihres beschränkten Verstandes wissen mußten, daß jeder, der es wagte, Qu’ail den Rücken zu kehren und hinaus in den Tag zu treten, unweigerlich im hellen Kirschlicht der Sonne sein Leben aushauchte. Aber vielleicht erschien ihnen der Feuertod im Sonnenlicht gnädiger als der Tod am musikalischen Mittagstisch der hungrigen Lady Lyzis.
    Wenn Calhan von diesen Dingen wußte, so kümmerte es ihn nicht.
    Er kam nicht nach Qu’ail, um Lyzis ein Ständchen zu bringen und sich von ihr zwischen Vorspeise und Dessert goutieren zu lassen.
    Er kam auch nicht nach Qu’ail, um

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