Lichtlos 1 (German Edition)
undurchdringliche Dunkel hineinginge.
»Es tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe .«
Sie behält ihr Schweigen bei.
Da die Vernunft das psychopathische Kind meiner Einbildung ausgeblendet hat, spreche ich jetzt mit dem wirklichen Kind. »Ich weiß, dass in Harmony Corner üble Dinge vor sich gehen .«
Der Versuch, das Mädchen durch die Offenbarung meines Wissens zu einem Gespräch zu verleiten, misslingt.
»Ich bin gekommen, um zu helfen .«
Der Anspruch auf edle Absichten, den ich gerade erhoben habe, ist mir peinlich, weil er überheblich erscheint, als glaubte ich, die Leute in Harmony Corner hätten auf keinen anderen als mich gewartet und könnten, da ich jetzt hier bin, damit rechnen, dass ich jedes Unrecht wiedergutmachen und die Ungerechten ihrer gerechten Strafe zuführen werde.
Mein sechster Sinn ist sonderbar, aber bescheiden. Ich bin kein Superheld. Tatsächlich baue ich manchmal Mist, und Menschen sterben, wenn ich sie unbedingt retten will. Meine vorrangige seltsame Gabe, die Fähigkeit, die Geister der verweilenden Toten zu sehen, ist hier gar nicht im Spiel gewesen, und mir bleiben nur meine nachtwandlerisch sichere Intuition, paranormaler Magnetismus, ein Geisterhund, der sich ständig woanders rumtreibt, und ein Sinn für die Rolle, die das Absurde in unserem Leben spielt. Wenn Superman seine Fähigkeit zu fliegen verlöre, seine Kraft, seinen Röntgenblick, wenn er für Klingen und Kugeln nicht mehr undurchlässig wäre und ihm nur noch sein Kostüm und sein Selbstvertrauen blieben, wäre er der Familie Harmony wahrscheinlich eine größere Hilfe, als ich es sein werde.
»Ich gehe jetzt « , teile ich der Dunkelheit mit, und meine Stimme hallt hohl von dem gewölbten Beton wider, der mich auf allen Seiten umgibt. »Ich hoffe, du fürchtest dich nicht vor mir. Ich fürchte mich nicht vor dir. Ich möchte nur dein Freund sein .«
Ich beginne, mich zu fragen, ob ich allein sein könnte. Vielleicht hat die Gestalt, die ich gesehen habe, einen Weg durch das Gestrüpp auf die Böschung gefunden. In dem Fall ist das furchtsame Mädchen, mit dem ich jetzt spreche, ebenso sehr meiner Einbildungskraft entsprungen wie das gemeingefährliche mit dem Tranchiermesser.
Wie ich schon früher gelernt habe, ist es durchaus möglich, sich bei einer Fehleinschätzung oder einem Fehlverhalten genauso blöd vorzukommen, wenn man allein ist, wie wenn man eine Menge erstaunter Zeugen hat.
Um zu vermeiden, dass ich mir noch blöder vorkomme, beschließe ich, das Rohr nicht rückwärts zu verlassen, sondern mich umzudrehen und unbesorgt, wen ich hinter meinem Rücken haben könnte, hinauszugehen. Schon beim ersten Schritt beschwört meine Einbildungskraft ein Messer herauf, das durch die Dunkelheit fliegt, und beim dritten Schritt erwarte ich, dass die Spitze der Waffe neben meinem linken Schulterblatt zusticht und in mein Herz dringt.
Ich verlasse das Abflussrohr, ohne verwundet zu werden, wende mich am Strand nach links und entferne mich mit der zunehmenden Überzeugung, dass der Film, in dem ich bin, nicht zum Slasher-Genre gehört. Als ich den holprigen Trampelpfad mit den zerbrochenen Muschelschalen erreiche, blicke ich zurück, aber von dem Mädchen – falls es überhaupt ein Mädchen war – ist nirgendwo etwas zu sehen.
Nachdem ich zu der schmalen asphaltierten Straße und dem letzten der sieben Häuser zurückgekehrt bin, wo zwei Fenster im Erdgeschoss von Lampenlicht erhellt werden, beschließe ich, ein Fenster nach dem anderen auszukundschaften. Während ich mit der Verstohlenheit einer Katze und der Vorsicht einer Maus die Stufen vor dem Haus hinaufsteige, sagt eine Frau: »Was wollen Sie ?«
Ich halte die Pistole noch in meiner Hand und lasse sie jetzt an meiner Seite runterhängen, wobei ich mich darauf verlasse, dass die Dunkelheit sie verbirgt. Über den Stufen sehe ich etwas, das vier Korbsessel mit Polstern zu sein scheinen, die alle in einer Reihe auf der Veranda stehen. Die Frau sitzt auf dem dritten Sessel und ist in dem schwachen Schein, der durch das Fenster mit zugezogenen Gardinen hinter ihr dringt, kaum zu sehen. Dann rieche ich den Kaffee und kann sie gerade gut genug sehen, um zu erkennen, dass sie einen Becher in beiden Händen hält.
»Ich möchte helfen « , sage ich zu ihr.
»Helfen wobei ?«
»Ihnen allen .«
»Was bringt Sie auf den Gedanken, dass wir Hilfe brauchen ?«
»Donnys vernarbtes Gesicht. Hollys amputierte Finger .«
Sie trinkt ihren Kaffee.
»Und
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