Lichtlos 1 (German Edition)
etwas, das mir beinahe zugestoßen wäre, als ich ein Bier getrunken und ferngesehen habe .«
Sie antwortet immer noch nicht.
Das rhythmische Grollen der Brandung ist hier gedämpft.
Schließlich sagt sie: »Wir sind vor Ihnen gewarnt worden .«
»Von wem ?«
Anstelle einer Antwort sagt sie: »Wir sind ermahnt worden, Sie zu meiden … und wir glauben zu wissen, warum .«
Im Westen ist der Mond so rund wie das Zifferblatt einer Taschenuhr, und an diesem außerordentlich klaren Himmel scheint er eine Uhrentasche aus Sternen zu haben.
Die Dämmerung ist noch mehr als eine Stunde vom östlichen Horizont entfernt. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, im Dunkeln werde ich einen von ihnen einfacher dazu bringen können, offen zu reden.
Sie sagt: »Ich werde bestraft, wenn ich Ihnen etwas sage. Streng bestraft .«
Wenn sie bereits beschlossen hätte, nicht mit mir zu reden, wäre es unnötig gewesen, mich darauf hinzuweisen, dass sie teuer dafür bezahlen wird. Sie würde mich schlicht und einfach fortschicken.
Sie braucht einen Grund, um das Risiko einzugehen, und ich glaube zu wissen, was sie motivieren könnte. »Ist das Ihre Tochter, die ich am Strand gesehen habe ?«
Die Augen der Frau funkeln schwach im Umgebungslicht.
Ich setze mich auf den ersten Sessel, lasse einen Platz zwischen uns frei und halte die Pistole in meinem Schoß.
Meine Bestürzung ist nicht so groß, wie sie eigentlich sein sollte, als ich sie zu manipulieren versuche. »Ist Ihre Tochter schon vernarbt? Hat sie noch sämtliche Finger? Ist sie streng bestraft worden ?«
»Das ist nicht nötig .«
»Was ist nicht nötig, Ma’am ?«
»Sie brauchen mich nicht derart zu bedrängen .«
»Entschuldigen Sie, bitte .«
»Was sind Sie ?« , fragt sie. »Für wen arbeiten Sie ?«
»Ich bin Agent, Ma’am, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wofür oder für wen .«
Das ist allerdings wahr. Ich könnte ihr sagen, für wen ich kein Agent bin: das FBI , die CIA , das Amt für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoffe … Für das Amt, das ich innehabe, gibt es kein Dienstabzeichen und keinen Gehaltsscheck, und obwohl es mir scheint, als machte mich meine Gabe zum Agenten einer höheren Macht, kann ich es nicht beweisen und wage es nicht zu behaupten, aus Furcht, ich könnte für wahnhaft gehalten werden.
Eigenartig gefühllos, wenn man ihre Worte bedenkt, sagt sie: »Jolie, meine Tochter, ist zwölf. Sie ist klug und stark und gut. Und sie wird getötet werden .«
»Was bringt Sie auf den Gedanken ?«
»Dass sie zu schön ist, um zu leben .«
5
Die Frau heißt Ardys und ist die Ehefrau von William Harmony, dessen Eltern Harmony Corner erschaffen haben.
Es gab eine Zeit, sagt sie, als das Leben hier so ideal war, wie es nur irgendwo sein kann. Sie erfreuten sich der Vorzüge eines engen Familienverbandes und des Segens eines einträglichen Unternehmens, in dem sie alle konfliktfrei miteinander arbeiteten, vielleicht ganz ähnlich wie eine Pionierfamilie aus einer anderen Epoche, die ein Stück Land beackerte, gemeinsam das hervorbrachte, was sie zum Leben brauchten, und zur gleichen Zeit eine Geschichte von Errungenschaften und gemeinsamen Erlebnissen entstehen ließ, die sie in der besten Form miteinander verband.
Seit der Gründung von Harmony Corner sind die Kinder der Familie zu Hause unterrichtet worden, und sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen haben den größten Teil ihrer Freizeit vorzugsweise damit verbracht, in dieser Bucht zu fischen, sich an diesem Strand zu sonnen und in diesen grasbewachsenen Hügeln spazieren zu gehen. Für die Kinder im Schulalter gab es natürlich Ausflüge und Ferien außerhalb der Grenzen ihres Anwesens – bis vor fünf Jahren. Dann ist Harmony Corner für sie zu einem Gefängnis geworden.
Sie berichtet das mit einer ruhigen Stimme und so leise, dass ich mich zeitweilig auf meinem Stuhl zur Seite beuge, damit ich sicher sein kann, dass ich jedes Wort höre. Sie gestattet sich keine Spur von Kummer über den bevorstehenden Verlust, wie man es erwarten würde, wenn sie tatsächlich glaubt, dass die junge Jolie als Strafe für ihre Schönheit getötet werden wird. Es schleicht sich auch kein furchtsamer Klang in ihre Stimme ein, und ich habe den Verdacht, sie muss emotionslos sprechen, weil sie andernfalls vollständig die Selbstbeherrschung verlieren wird, die erforderlich ist, um überhaupt mit mir zu sprechen.
Es ist buchstäblich ein Gefängnis, sagt sie. Niemand macht mehr Urlaub
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