Lichtschwester
Nähe weckte das Jagdfieber in ihr.
Wie sie doch nach Fleisch hungerte ... »Rasch, laß mich herun-
ter«, flüsterte sie Nitra hilfsbereit zu. »Damit du dich verwandeln
und es reißen kannst.«
»Mich verwandeln?« fragte die Frau und starrte sie verblüfft an.
»Meine Stute reißen?«
Die Stute kam zutraulich näher. So ein großes Pferd hatte Sofyia
noch nie gesehen! Zudem war es nicht braun, sondern weiß wie
der Todeswolf und trug am Kopf Lederriemen und Knochenstück-
chen. Ihr Herz begann zu rasen. Die alte Hexe hatte sie belogen!
Hier gab es für sie keine Rettung, kein Entrinnen mehr. Nein,
östlich des Morgens war das Reich des Todes!
Nun blieb das Pferd ruhig vor ihr stehen. Es hatte sanfte, braune
Augen mit geschlitzten Pupillen - wie eine Ziege. Sofyia wim-
merte vor Angst, als Nitra sie seitlich auf seinen Rücken hob.
»Kannst du denn nicht richtig aufsitzen?« fragte Nitra erstaunt.
»Schwing einfach dein rechtes Bein darüber. Hier, ich schlag dir
die Röcke zurück, damit sie dir nicht im Weg sind ...« Sofyia sah
ihre bleichen Hände näherkommen und die blauen Augen dämo-
nenhaft funkeln. Oh, gleich würde die Fremde sich verwandeln,
um sie auf der Stelle mit Haut und Haar zu verschlingen ...
Da fiel sie in Ohnmacht.
»Wenn du es mich dir braten ließest, könntest du es viel leichter
kauen«, sagte Nitra nun schon zum drittenmal.
Aber Sofyia schüttelte heftig den Kopf und spie wütend vor ihr
aus. Wenn die nicht höflich warten konnte, bis sie ihr Fleisch ver-
zehrt hätte, verdiente sie keine andere Antwort! Sie spürte die
Blicke aller Jagdgefährtinnen Nitras auf sich, als sie sich nun noch
einen Brocken Fleisch von der blutigen Hirschkeule riß. Ihr war,
als würde sie von Geistern belauert ... Die Augen dieser Frauen
reflektierten den Feuerschein nicht. Nur ihr Geruch sprach dafür,
daß sie lebendige Wesen waren. Und der Gestank des bis zur Un-
kenntlichkeit verkohlten, faden Fleischs, das sie aßen.
»Undankbare Hündin!« murmelte eine.
»Schweig!« fuhr Nitra die Gefährtin an. »Sie wäre fast ertrunken
und ist noch völlig verschreckt. Als ich sie aufs Pferd hob, ist sie
sogar ohnmächtig geworden!«
»Sie hätte es dir fast aufgefressen!« versetzte die Gescholtene und
kniff ihre Augen zu schwarzen Schlitzen. »Aber wenn es dir lieber
ist, nenne ich sie eben undankbare Wölfin.«
Das reichte Sofyia nun! Empört legte sie die halbe Keule beiseite
und knurrte böse: »Weshalb beleidigt ihr mich und schmeichelt
mir in einem Atemzug?«
Nitra legte ihr die Hand auf den Arm. »Wie meinst du das?«
»Ja, ich bin wohl undankbar«, seufzte Sofyia und starrte auf die im
Feuerschein wie Gold schimmernden blonden Härchen auf Nitras
Handrücken. »Du rettest mich, wärmst mich mit deinem Um-
hang. Ich schrecke vor dem Beutetier zurück, das du dir gezähmt,
dienstbar gemacht hast. Du teilst dein erbeutetes Fleisch mit mir,
und ich schlinge es gierig und ohne ein Wort des Danks hinunter.
Wie soll ich mich da nicht wundern, wenn deine Genossin mir den
Ehrentitel gibt, den mir meine Leute bisher verweigert haben?«
Da hielt sich Nitra rasch die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu verbergen - aber es war vergebliche Mühe. »>Wölfin< ist in deinem Land ein Kompliment?» prustete sie.
Sofyia stieß die blutige Keule wag, legte den Kopf auf den Tisch
und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Die Hexe hat mich zum Nar-
ren gehalten«, schluchzte sie. »Sie hat gesagt, daß ihr mir helfen
würdet. Aber ihr macht euch ja auch nur über mich lustig!«
»Was hat diese Alte versprochen ?« forschte Nitra, nun ganz ernst.
»Wo kommst du überhaupt her, Kleine?« Sie sah auf einmal hart
und mißtrauisch drein ... und die übrigen Jägerinnen musterten
Sofyia mit Augen so schwarz wie Anthrazit.
Sofyia hatte plötzlich Angst, ihnen die Wahrheit zu sagen. Aber
könnten sie ihr noch mehr antun, als sie bereits gelitten hatte?
Waren diese Frauen nicht ihre Retterinnen? Sie wischte sich die Tränen ab - schalt sich aber gleich deswegen, weil sie sich dabei die letzten Sandkörner ins Auge gerieben hatte, daß es höllisch brannte.
»Ich gehöre zu den Neuri.«
»Die Neuri!« rief Nitra überrascht. »Die Wolfsmenschen?«
Sofyia nickte. »Aber ich kann mich leider nicht so verwandeln wie
die übrigen meines Volks. Solange alle in Menschengestalt im Dorf leben, ist es nicht so schlimm. Aber wenn
Weitere Kostenlose Bücher