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Lichtschwester

Lichtschwester

Titel: Lichtschwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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staunte Sofyia, hob rasch den Kopf und blinzelte scheu zu ihrer neuen Freundin hinüber. »Aber ihr hattet heute abend doch frisches Fleisch. Wer hat diesen Hirsch getötet? Eure Männchen? Ich habe noch keines zu Gesicht bekommen. «
      »Ha!« schnaubte Nitra und reckte sich. »Hier in Sauromatien leben Frauen und Männer getrennt voneinander. Wir kommen nur zu-sammen, um Kinder zu zeugen. Wir jagen und kämpfen jedoch ganz auf eigene Faust.«
      »Was?« fragte Sofyia baff. »Ihr ... könnt gar nicht Wolfsgestalt annehmen?«
      Nitra schüttelte energisch den Kopf.
  »Oh, das tut mir leid.«
      »Das braucht dir nicht leid zu tun«, versetzte Nitra und musterte sie mit dem eindringlichen Blick ihrer blauen Augen. »Dein Stamm hat wohl die alte Sage vergessen, die erzählt, daß die Neuri, Sauromatier und Skythen, ja, alle Menschen, aus Tieren hervorgegangen sind ... Wir Sauromatier haben uns fürs Menschsein entschieden, als die Mondin uns allen, Männern wie Frauen, vor langer Zeit erklärte, daß wir mit Hand und Hirn sehr viel mehr anfangen könnten als mit Zähnen und Klauen.
      Die Neuri aber weigerten sich, ihrer tierischen Natur zu entsagen.«
  »Selbstverständlich! Wieso sollte man auch ausschließlich Mensch sein wollen, wenn man wie ein Wolf laufen kann?!«
  »Ich frage mich, wie menschlich die Neuri eigentlich sind«, sagte Nitra, erhob sich rasch entschlossen und wischte sich flüchtig den Hosen-boden ab. »Hör, ich muß zum Hügel dort, um die Mondin zu befragen.« Und schon verschwand sie in dem dunklen Wald, der sich über dem Flußufer erhob.
      Sofyia starrte ihr zutiefst verwundert nach. Daß ein Mensch sich so geräuschlos bewegen konnte! Als Nitra nach einer Weile ebenso geräuschlos zurückkehrte und sie unsagbar ... hungrig anlächelte, vermeinte sie doch wieder, eine Werwölfin vor sich zu haben, und sah ängstlich zu ihr auf.
      »Was schreckt dich so?« fragte Nitra, und ihre Zähne funkelten im Feuerschein.
      »Du tötest wohl, ohne dich zuvor zu verwandeln«, erwiderte Sofyia nervös.
      »Schon beim ersten Morgenlicht werde ich auch dich das lehren«,
versicherte Nitra. »Und dann erfüllt sich die Prophezeiung der
Hexe in für sie ganz unerwarteter Weise.«
      Der Winter stand vor der Tür. Nun würden die Neuri bald ihr Dorf
verlassen, ihre Menschengestalt aufgeben und nach Süden ziehen ...  
      Sofyia ritt in der Richtung, in der sie auf sie zu stoßen hoffte. Sie trug eine Bluse und Reithosen aus mit Hirschköpfen besticktem Tuch - Hirsche waren ihr bevorzugtes Wild —, und ihre Reitstiefel waren so rot wie frisches Blut. Ihr Hengst, der rechte Bruder von Nitras Stute Turek, legte in scharfem Trab munter Meile um Meile zurück, und die neben ihm am Leitzügel gehende Stute Vacha, sein Weibchen, hielt mühelos mit ihm Schritt.
      Die Stute trug auch das Wild, das Sofyia für sich und das Jagdhundpärchen, das Nitra ihr zum Abschied geschenkt hatte, mit Pfeil und Bogen erlegte.
      Sofyia durchquerte all die Flüsse, die sie schon auf dem Herweg
überwunden hatte, aber diesmal ohne Mühe, da ihr Hengst für sie
schwamm. Die Stämme, vor denen sie sich gefürchtet und versteckt hatte, flohen nun entsetzt vor ihr ... Sie ritt ohne Groll dahin. Ihr Herz hatte der alten Hexe längst vergeben. Ihre Prophezeiung hatte sich ja erfüllt! Nein, sie wäre ihrem Volk jetzt keine Last mehr. Ihre Leute würden vor ihr katzbuckeln, wenn sie erst sähen, was sie gelernt hatte, und würden sie als vollwertig betrachten. Ja, und dann würde sie sich ein Wolfsmännchen erwählen.
  Früher als erwartet, stieß sie auf Fährten, größer und tiefer als die
gewöhnlicher Wölfe. In ihrer Freude schoß sie als Mitbringsel schnell einen Hirsch und folgte, da sie vor lauter Aufregung doch nicht schlafen konnte, die ganze mondlichthelle Nacht über, bloß von ihrem Geruchssinn und scharfen Auge geleitet, der Spur ihres Stammes.
      Am frühen Morgen stieß sie an einem Nebenarm des Flusses Maris, den die Sauromatier Tiarantos nennen, auf den Sammelplatz der Neuri. Hütten und Zelte waren jedoch weit und breit nicht zu sehen, auch keine menschlichen Fußspuren – bloß Wolfsfährten. Nun bellte und jaulte Sofyia in der Wolfssprache, soweit sie die eben beherrschte, einen Wiedersehensgruß.
  Da kamen sie herbeigetrottet, setzten sich in weitem Kreis um sie und die Pferde und beäugten sie mißtrauisch. Voll Mitleid sah sie ihre Eltern an, die in diesen paar

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