Lichtspur
aufragte. Dies war der Pointe Walker des Grandes Jorasses im Mont-Blanc-Massiv, erklärte ihr Orakel. Die spektakulärste Route hinauf zur schönsten Felswand des Planeten. Dem Zustand des Gletschers nach zu urteilen, konnte diese Erinnerungen nicht sehr viel später als zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts entstanden sein. Italien lag südlich, auf der anderen Seite dieses Kolosses. Im Westen funkelte der Mont Blanc unter einem so blauen Himmel, dass auch der vorsichtigste Bergsteiger einen Aufstieg gewagt hätte.
»Brauchen Sie Begleitung?«, fragte jemand hinter ihr.
Sie drehte sich um und sah auf dem Hang unter ihr eine Frau kauern, die ein grellbuntes Kletterseil zusammenrollte. Sie handhabte das Seil mit geübten Händen, ohne eine überflüssige Bewegung. Unter ihrer sonnengebräunten Haut spannten sich straffe Bergsteigermuskeln. Lucinda, dachte Li. Ihr Name ist Lucinda.
Lucinda blickte auf, ihre Augen (von denen Li irgendwie wusste, dass sie blau waren) hinter verspiegelten Brillengläsern verborgen. Li sah ihr eigenes doppeltes Spiegelbild in den Linsen: ein dunkler, schmalgesichtiger Windhund
von einem Mann, der nur Hyacinthe Cohen selbst sein konnte.
»Ich liebe dich«, hörte sie Hyacinthe mit einer Stimme sagen, die Cohens Stimme sehr ähnlich war. Und Li schauderte, weil sie diese Liebe kannte. Sie spürte ihre Hitze, erinnerte sich, sie gelebt zu haben. Sie erinnerte sich nicht nur an diesen Moment, sondern an alles. An das ganze Leben eines Mannes, der vor zwei Jahrhunderten gestorben war.
Lucinda lächelte voller Wärme zu ihr hinauf und sagte: »Ich weiß.«
»Interessant«, sagte Cohen, als der Gedächtnispalast um sie wieder Formen annahm. »Ich hätte nicht gedacht, dass du Cinda sehen wirst.«
»Siehst du nicht jedes Mal dasselbe?«
»Im Laufe der Zeit neige ich dazu, Auffindbarkeit für … für andere Werte zu opfern. Erstaunlich, was an die Oberfläche dringt. Als ob das, was ich mitbringe, die Richtung vorgibt. Die meisten KIs, darunter einige meiner Vertrauten, finden es lächerlich ineffizient. Aber schließlich«, er lächelte selbstgefällig, »bin ich nicht wie die meisten KIs.«
Li sah sich um. Wie weit reichte dies alles? Und was oder wer lauerte in den anderen Gedächtnispalästen?
»Was beschäftigt dich?«
Sie zögerte. »Es wirkt so … menschlich.«
»Nun, in vieler Hinsicht ist Hyacinthe ein Mensch.«
»Du redest über ihn, als wäre er nicht du.«
»Er ist nicht mein ganzes Ich. Aber er ist das erste.«
»Er kontrolliert also … die anderen?«
Cohen machte ein spitzfindiges Gesicht. » Kontrollieren ist ein zu starkes Wort. Ich würde sagen, er … vermittelt. Ich weiß, du hältst mich für einen unverbesserlichen Nabelschauer, aber um ehrlich zu sein, ich habe eigentlich nie viel darüber nachgedacht. Denkst du darüber nach,
wie du über die Straße gehst? Oder wie dein Magen funktioniert? «
»Allerdings kann ich es nicht in Einklang bringen mit …«
»Mit dem, weswegen du eben fast von der Veranda gefallen bist?« Sie nahm an, er wartete darauf, dass sie über diese geistreiche Anspielung lächelte, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. »Musst du es in Einklang bringen?«
Sie wusste keine Antwort darauf.
»Wenn es ein Trost für dich ist: die meisten empfindungsfähigen Systeme in meinem geteilten Netz zeigen die gleiche Reaktion. Sie können ohne meine Vermittlung keine Perspektive des Systems gewinnen. Es bedeutet nicht, dass ich sie kontrolliere. Sie haben ihre eigenen Ideen und Meinungen. Aber sie sind hier Gäste. Und weil es mein Haus ist, folgen sie meinen Regeln. Meistens jedenfalls. «
Li sah ihn unsicher an, hin und her gerissen zwischen den vielen Fragen, die sie stellen wollte, und ihrer Unfähigkeit, sich für eine Frage zu entscheiden. Sie ging die aneinandergereihten Schubfächer entlang, öffnete einige, und Cohen war immer hinter ihr, beobachtete sie, machte Anmerkungen. Langsam, ohne sich ganz einzugestehen, wohin sie sich bewegte, arbeitete sie sich in den Garten zurück.
Es war ein eigenartiger Garten, wild, die Luft schwer vom Duft der Erde und der Rosen. Der vordere Teil war gut gepflegt, mit einem ordentlichen Kräuter- und Blumenbeet bepflanzt, fast etwas streng, verglichen mit Cohens Dschungel im Realraum. Aber am anderen Ende waren der Boden und Teile des Palastes selbst von einem üppig wuchernden Dickicht aus wilden Rosen überwachsen.
Sie betrachtete das dornige Gewirr über die Köpfe des sauber
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