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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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buttergelbem Sonnenlicht durchströmter Raum. An jeder Wand standen Schränke voller hölzerner Schubladen. Jede Schublade war mit einem eigenen polierten Messinggriff versehen, und alle waren gerade groß genug, um einen Datenkubus aufzunehmen. Die Schubfächer waren weder mit Beschriftungen noch mit Symbolen versehen, aber wenn sie eines berührte, blitzten
vor ihr flüchtige Bilder ihres Inhalts auf. »Wo sind wir hier?«, flüsterte sie.
    »In mir.« Cohen strich mit der Fußspitze einen orientalischen Teppich glatt. »Nun, das ist jedenfalls die kurze Antwort. Die lange Antwort ist, dass ich dies hier für einen guten Ausgangspunkt halte, weil Hyacinthe das Kernnetzwerk ist, mit dem du am besten vertraut bist.«
    »Benutzt du dieses Setting selbst?«
    »Natürlich. Ich wechsele zwischen VR und den Zahlen hin und her wie du, wenn du dich in den Strom einloggst. Ich verzichte meistens auf VR, wenn ich unter Zeitdruck stehe oder unter hoher Belastung arbeite. Aber wenn ich Zeit und die nötige Rechenleistung habe …«
    Li wusste, wie diese Art von VR-Konstrukt funktionierte. Die Schubfächer enthielten gespeicherte Daten, die von einem unintelligenten Zugriffsprogramm verwaltet wurden. Hinter den Wänden – wohin sie nicht sehen konnte, ohne in den Codemodus zu wechseln – verbargen sich die Innereien des Systems: die halbintelligenten Betriebsprogramme und das intelligente Netzwerk, zu dem diese Erinnerungen und Dateien gehörten. Li sah durch den langen Raum und stellte fest, dass es nur einer von vielen war, die sich in einen abgeschiedenen Garten öffneten. Und jede Wand, jede Arkade, jeder Pflasterstein hielt eine Erinnerung fest. »Mein Gott«, flüsterte sie, »das ist gewaltig.«
    »Unendlich, um genau zu sein«, rief Cohen aus dem Garten, wo er eine vom Wind zersauste Dahlie hochband. »Es ist eine gefaltete Datenbank.«
    Li machte große Augen. Wie konnte jemand – oder auch zehn Personen – so viele Erinnerungen haben? Was musste das für ein Gefühl sein, unter einer solchen Last des Vergangenen begraben zu sein. Sie ging zaghaft durch die Räume, fuhr mit den Händen übers Holz, wagte es noch
nicht, irgendein Schubfach zu öffnen. Die Erinnerungen waren grob in Kategorien sortiert, und als Li sich vorarbeitete, begann sie versteckte Verbindungen zu sehen, entdeckt sie vielsagende Anspielungen. In der Arkade am Rande des Gartens war eine ganze lange Wand einem Mosaik aus Büchern, Filmen, Gemälden vorbehalten, jedes davon zu einem winzigen, emotionsgeladenen Farbtupfer komprimiert. Ein anderer Raum schien nur Erinnerungen an die Erde zu beinhalten, die meisten aus den letzten paar Jahren vor der Evakuierung. Dann kam ein weißes, stilles Zimmer, das ganz leer war. Als Li tiefer in den Komplex vordrang, bemerkte sie, dass die meisten Erinnerungen in den äußeren Räumen anderen Personen gehörten. Cohens eigene Erinnerungen waren in der sonnigen, ruhigen Arkade entlang der südlichen Öffnung des Gartens konzentriert. Und in dem Garten selbst waren Menschen gespeichert – alle Menschen, die Cohen während seines ungemein langen Lebens gekannt hatte.
    »Komm, schau dir die an«, sagte Cohen.
    Sie folgte ihm.
    »Die gehören alle zu Hyacinthe.« Er deutete auf eine schmale Reihe von Schubfächern unmittelbar hinter der Tür. »Der Person, nicht dem Netzwerk. Du dürftest keine Schwierigkeiten haben, sie dir anzusehen. Versuch’s nur, schau mal rein.«
    Die öffnete das Schubfach, auf das er zeigte. Es war leer. »Was …?«
    Er lächelte. »Welcher Sinn ist am engsten mit dem Gedächtnis verbunden?«
    Li blinzelte. »Der Geruchssinn.«
    »Und?«
    Sie beugte sich über das Schubfach und schnupperte. Es roch nach Zedern und der altmodischen Möbelpolitur, die jedem Holzstück in Cohens Haus im Realraum anhaftete.
Li hatte für einen Moment das lächerliche Bild eines seiner adrett gekleideten französischen Stubenmädchen vor Augen, das in die makellosen Knie ging, um die Böden und Sockelleisten des ätherischen Gedächtnispalastes zu schrubben. Dann fing sie einen Geruch auf, der die anderen Gerüche durchdrang: den Geruch des Erinnerns selbst.
    Der Raum um sie verschwand. Sie stand auf einem steilen Geröllhang, ihr Gesicht erwärmt von der goldenen Sonne der Erde vor der Migration. Unter ihr wand sich ein Gletscher dahin wie ein Fluss. Hinter ihr ragte eine nahezu vertikale Wand aus Fels und Eis auf. Li drehte sich um und verrenkte den Hals, um zu der Granitsäule aufzublicken, die hinter ihr

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