Lichtspur
hochgekommen war und sie es nicht mehr ertragen konnte. Aber sie war zu krank und zu müde, um etwas zu sagen.
Es war Cohen, der schließlich die Idee des Gedächtnispalastes aufbrachte. Er benutzte gerade Arkady für das Overlay, als er es ihr erklärte, und seine Aufregung ließ die Augen des Konstrukts glühen wie frisch entzündete Kohle. »Es ist ein organisches Problem«, erklärte er. »Wir versuchen
parallel verarbeitende Netze auf KI-Niveau in ein organisches System zu integrieren, das bereits veraltet war, als das erste Mal ein Mensch einen Stift aufs Papier gesetzt hat. Also, wenn wir nicht dagegen ankämpfen können, müssen wir damit arbeiten. Wir versuchen einen der ältesten Tricks, die es gibt – Matteo Riccis Trick. Wir bauen einen Gedächtnispalast.« Arkadys Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Oder besser: Wir geben dir die Schlüssel zu meinem.«
Er brauchte zwanzig Stunden, um die Schlüssel zusammenzustellen. Stunden, die sie durchschlief in dem verzweifelten Versuch, die Energie für ihren letzten Vorstoß zu sammeln. Es war am späten Morgen des dritten Tages, als sie sich nach dem Aufwachen auf das Sofa legte, das Arkady für sie ins Labor gezogen hatte, die Augen schloss, sich in die Anlage einstöpselte und sich allein in einem kahlen, weißen Zimmer wiederfand.
»Du wirst vielleicht ein wenig nach der Tür suchen müssen«, sagte Cohen über ihre Schulter. »Das habe ich noch nicht ganz hinbekommen.« Er fühlte sich kleiner, dünner an als sonst, dachte Li. Und als sie sich umsah, stand unversehens Hyacinthe vor ihr, die Schuhe über die Schulter gelegt, einen Kopf kleiner als sie und in Socken. »Die Tür«, sagte er nachdrücklich.
Sie drehte sich um und sah eine glänzende, kunstvoll geschnitzte Mahagonitür. Eigentlich mehr ein Fenster als eine Tür; ihre Schwelle war etwa auf Kniehöhe in die Wand eingelassen, und selbst Li musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf gegen die Oberkante des Rahmens zu stoßen.
»Weiter«, sagte Cohen.
Es war so hell auf der anderen Seite, dass Li einen Moment brauchte, um etwas erkennen zu können. Sie stand in einem fünfeckigen Hof. Mit strahlend bunten Mosaiken geschmückte Fassaden umgaben sie. Hinter den Mauern
konnte sie die messerscharfen Berge einer trockenen Landschaft erkennen.
Sie hörte ein Geräusch von fließendem Wasser und spürte kalte Tröpfchen im Gesicht, bevor sie den Brunnen sah. Das Wasser strömte aus einem kleinen Steinhaufen wie aus einer Quelle und lief eine lange abschüssige Treppe hinunter, die bis zum anderen Ende des großen Hofs führte. Li verfolgte den Weg des Wassers durch einen schattigen Säulengang, wo gelegentlich hereindringende Sonnenstrahlen die Mosaiken wie Augen glänzen ließen. Der Wasserlauf endete in einem schmalen, spiegelnden Teich, auf dem das Wasser irgendwohin abfloss. Li stieg über den Teich und ging den Säulengang entlang. Ihre Absätze klackten über das Pflaster. Sie kam an eine Tür und öffnete sie.
Ein Aufruhr von Farben und Gerüchen überschwemmte sie. Sie stand in einer langen Halle mit hoher Decke, die mit Spiralmustern aus Marmormosaiksteinen geschmückt war. Bunte Blumen ragten aus Vasen, die mit wilden Löwen und herumtollenden, grinsenden Drachen bemalt waren. An den Wänden standen Vitrinen, deren polierte Glasfronten mit Büchern, Fossilien, Fotos, Spielkarten gefüllt waren. Als sie in den Flur trat, bewegte sich etwas am Rande ihres Gesichtsfelds. Sie fuhr herum – und stellte fest, dass einer der gemalten Drachen mit den schuppigen Füßen aufstampfte und ihr zuzwinkerte. Sie schüttelte den Kopf und prustete. Hyacinthe lachte.
Eine Seite der Halle öffnete sich auf eine hohe Terrasse, und als Li hinaussah, konnte sie die steinernen Befestigungswälle eines Kreuzfahrerschlosses erkennen, die sich in die Flanke eines Berges bohrten, der kilometerweit über einem langen, grünen, winddurchfegten Tal aufstieg. Li trat an die Balustrade und beugte sich über den Abgrund. Der Stein unter ihrer Hand fühlte sich so heiß an, als sei
er von der Nachmittagssonne erwärmt worden, aber als Li zum Himmel aufblickte, schien es noch früher Morgen zu sein – der frische, kühle Morgen eines Herbsttages.
Die Wärme steckte im Stein, wurde ihr klar, ein Teil der wimmelnden Lebendigkeit, die dieser Ort ausstrahlte. War das alles Cohen? Das Schloss? Der Berg? Diese ganze Welt, wo immer und was immer sie auch war? Li beugte sich weiter hinaus, blinzelte in den
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