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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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nicht? Warum war sie sonst so unerträglich, unverzeihlich grausam zu ihm gewesen?
    Sie sprang in die Gegenwart zurück und sah Cohen auf der Bank sitzen und zu ihr aufblicken. Er hielt den Atem an wie ein Kind, das immer noch daran glaubte, dass Träume wahr werden, wenn man nur fest genug daran glaubt. Es war der gleiche Blick, an den sie sich aus jener Nacht erinnerte – und bei Gott, ein grausamer Teil von ihr wollte ihm diesen Blick aus dem Gesicht schlagen.
    Er blinzelte, und ihr Magen krampfte sich vor Scham zusammen, als ihr klar wurde, dass etwas von diesem Gedanken zu ihm durchgedrungen war.
    »Du bist eine sehr verwirrte Person«, sagte er.

    »Du hast sechs Jahre und ein Vermögen für Wetware gebraucht, um das herauszufinden?«
    »Nein, ich wusste es schon nach fünf Minuten.« Er lächelte. »Es schien mir nur bisher unhöflich, es zu erwähnen. «
    Etwas berührte den Rand ihres Bewusstseins wie mit zarten, kitzelnden Fingerspitzen. Ihr wurde klar, dass sie diese Fingerspitzen schon lange Zeit gespürt hatte. Die ganze Zeit, in der sie den sonnendurchfluteten Garten von Hyacinthes Gedächtnispalast erkundet hatte, war jemand wie ein Dieb auf Samtpfoten durch die dunklen Korridore ihres Unterbewusstseins geschlichen, hatte ihre Erinnerungen erforscht, ihre Reaktionen erkundet, an ihren Gefühlen Maß genommen. Wohl eher ein kleiner Dieb in Socken und Fußballhose, dachte sie.
    »Ich will nicht, dass du in meinem Kopf herumschleichst«, sagte sie zu ihm. »Ich mag’s nicht, wenn du herumschnüffelst. «
    »Herumschnüffeln? Und was meinst du, was du hier tust?«
    »Das ist etwas anderes. Ich muss hier sein. Es ist nichts Persönliches.«
    »Nein?« Er biss sich auf die Lippe und blickte durch Hyacinthes dunkle Augenwimpern zu ihr auf. »Persönlicher könnte es gar nicht sein, Catherine. Und es ist keine Einbahnstraße. Die Verbindung wird nicht funktionieren, wenn du das nicht akzeptierst.«
    »Dann wird’s eben nicht funktionieren«, sagte sie.
    Sie wandte sich ab und wollte gehen – und verfing sich in einem der langen Triebe, sie sich aus dem Rosendickicht wölbten. »Verdammt noch mal!«, brummte sie und versuchte sich loszureißen, schaffte es aber nur, sich die messerscharfen Dornen durch ihren dünnen Ärmelstoff in den Arm zu bohren.

    In diesem Moment roch sie Gilead.
    Hatte Cohen nicht etwas in der Richtung gesagt, dass man im Gedächtnispalast fand, was man selbst mitbrachte? Dies war eine Erinnerung, die sie mit Sicherheit in sich getragen hatte. Eine Kopie ihrer eigenen UNSR-Datei.
    Es war Gilead, scharf und real, als ob sich alles noch einmal abspielte. Sie roch den Schlamm, den Dreck, die ständige nervenzermürbende, seelentötende Furcht. Sie sah die Gesichter toter Freunde und konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie um sie getrauert hatte. Sie sah die Leichen von Soldaten – und nicht bloß Soldaten, bei Gott –, und erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass sie sie getötet hatte.
    Denn dies war nicht die bearbeitete Spinvideo-Aufzeichnung, die in ihren Dateien gespeichert war. Es war das Gilead ihrer Ängste, Albträume und Sprungvisionen. Es war das echte Gilead: die originale Echtzeit-Aufnahme, die sie vor all diesen Jahren aufgezeichnet hatte. Irgendwie hatte Cohen Zugriff auf eine Datei erlangt, die Li selbst nicht einsehen durfte, eine Datei, die eigentlich vor allen Blicken geschützt hinter den inerten Firewalls der Archive im UNSR-Hauptquartier ruhen sollte. Und diese Datei erzählte eine andere Geschichte als die offizielle Version. Eine so ganz andere Geschichte, dass Li nicht darüber nachdenken wollte.
    Als sie Korchows junges, blutiges Gesicht sah, das zu ihr aufblickte, als sie sich selbst jene Worte sagen hörte, an die er sie im schattigen Durcheinander seines Antiquitätengeschäfts erinnert hatte, verlor sie die Nerven und lief davon.

Shantytown: 5.11.48.
    I st Ihnen schon der Gedanke gekommen, dass es nicht funktionieren könnte?«, fragte Cohen Korchow einen Moment später. Li ließ sich in einen Stuhl sacken, in den Schweiß eines Albtraums gebadet, nicht bereit, Korchow auch nur anzusehen.
    »Versuchen Sie’s noch einmal.«
    »Mein Gott, schauen Sie sie an, Korchow. Sie hat genug. «
    »Nur noch einmal.«
    »Wenn Sie es übertreiben, wird sie es nicht verkraften.«
    »Sie ist stark genug.«
    »Sie sind wirklich ein Idiot, wissen Sie das?«
    Korchow erwiderte nichts. Nach ein paar Sekunden hörte Li das Rascheln von Stoff und das Geräusch von

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