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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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hatte, sie sei nur im Dunkeln durch diese Straßen gelaufen? Wie viele Male war sie im Laufschritt an diesen Türen vorbeigekommen, die Augen auf ihre flinken Füße gerichtet, damit sie nicht aufblickte und versehentlich etwas Schreckliches sah, das ihr Herz stillstehen lassen würde, bevor sie zu Hause am Tisch und im Licht zu Abend essen konnte? Und wie oft hatte sie noch solche Angst gehabt, als sie unter Tage gearbeitet hatte und viel zu alt gewesen war, um sich vor der Dunkelheit zu fürchten? Oder zumindest zu alt, um es sich selbst einzugestehen.

    Die Gasse machte eine letzte Biegung und entließ sie auf einen kleinen Wäschereihof. Wenn sie innehielt und sich umsah, würde sie vielleicht den Faden der Erinnerung verlieren, dem sie folgte. Sie tat es nicht. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie den Hof überquerte, und wandte sich so zielsicher wie eine Brieftaube dem dritten Torweg zu. Es gab einen Lichtschalter, sehr viel tiefer an der Wand, als sie es in Erinnerung hatte. Sie drückte ihn. Kein Licht.
    Sie stieg im Dunkeln die Treppe hoch, hörte ihr vertrautes Knarren unter den Füßen und blieb im dritten Stock stehen, unmittelbar unter dem steilen Dach. Eine letzte halbe Treppenflucht endete vor einer Dachtür mit der Aufschrift AUSGANG. Ihre Viruflex-Platte warf genug Licht auf den Treppenabsatz, dass Li den Kasten mit leeren Milch- und Bierflaschen sehen konnte, der immer vor der Tür dieses Apartments gestanden hatte. Und an der Wand gegenüber stand ein Fahrrad, von dem sie schwören konnte, dass sie es einmal gefahren war.
    , hörte sie schockierend plötzlich Cohens Stimme in ihrem Kopf.
    Sie zog eine Grimasse. Sie hatte nicht gewollt, dass er davon erfuhr. , sagte sie.
    
    
    
    
    Eine verdächtig lange Pause. Dann:
    Jemand ging über ihr mit schweren, barfüßigen Schritten, und Li wandte sich der Dachtür zu. Sie öffnete sich und ließ einen Schwall feuchter, erfrischender Luft eindringen. Ein Mann in Straßenkleidung und Schlafzimmerpantoffeln schlurfte an Li vorbei und die nächste Treppenflucht
hinunter, wobei er sie die ganze Zeit mit einem matten, misstrauischen Ausdruck im Gesicht ansah. Er hatte einen frisch geschlachteten Kapaun unterm Arm und einen kleinen Blutfleck auf dem Ärmel, wo er sich geschnitten oder beim Rupfen des Vogels verletzt hatte. Li sah ihm hinterher, bis sie einige Treppenabsätze unter sich eine Tür zufallen hörte. Dann drehte sie sich um, starrte die Tür einige Minuten lang an und klopfte schließlich.
    Eine Klinke wurde gedrückt und auf der anderen Seite der Tür eine Kette vorgelegt. Ein Fingerbreit Lampenlicht drang auf den Treppenabsatz. Ein schmales, irisch blasses Gesicht drückte sich an den Türspalt.
    In Lis Herz rangen Erleichterung und Enttäuschung miteinander. Sie war’s nicht. Zu jung. »Ich suche nach Mirce Perkins«, sagte Li.
    Das Mädchen wich ein Stück zurück, und Li sah, dass sie einen Säugling auf der Hüfte trug. »Was wollen Sie denn verkaufen? Ach egal, wir kaufen sowieso nichts.«
    »Ich will nichts verkaufen.«
    Das Mädchen zog die Tür noch ein paar Zentimeter auf und sah Li von oben bis unten an. »Oh«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie eine zufallende Tür. »Polizei.«
    »Ist sie hier?«
    »Nein.«
    »Wo denn?«
    Das Mädchen zögerte. Li merkte ihr an, dass sie das Risiko persönlichen Ärgers gegen die Gewissheit abwog, dass Li, auch wenn sie ihr nicht half, Mirce ohnehin finden würde. »Schauen Sie mal ins Molly.«
    Li hörte sich selbst nervös lachen. Das Molly Maguire. Natürlich. Wo sonst sollte sich die irisch-katholische Bevölkerung von Shantytown an einem verregneten Samstagabend vor der Mitternachtsmesse ein paar Stunden aufhalten?

    Ihre Beine kannten den Weg zum Molly fast so gut wie den Weg zu ihrem Haus. Fünf Minuten später trat sie in den Vorraum einer rostigen Wellblechbaracke und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die lachende, dicht gedrängte Meute, die unentwegt die Schwelle des Molly zu belagern schien.
    Jeder Tisch, den sie sehen konnte, war besetzt. Selbst an der Bar waren nur ein paar freie Stühle übrig. Li fand einen und nahm Platz.
    »Einen Dreifachen«, sagte sie zu dem Barkeeper. Er schien ein wenig erschrocken, aber nur über das fremde

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