Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
Vom Netzwerk:
Gesicht; die Hälfte der Stammgäste im Molly waren zumindest teilweise Konstrukte und selbst die Irischsten unter den Irischstämmigen trugen die Merkmale der Genmanipulation aus der Migrationszeit. Das Starkbier, das der Barkeeper brachte, war gut, dick und torfig und so kräftig, dass man damit eine Mahlzeit ersetzten konnte. Was immer sonst im Molly vor sich ging – oder in den dunklen Gassen dahinter –, das Bier wurde immer besser.
    Sie trank durstig und sah sich in dem langen, schmalen Raum unter der gewölbten Decke um. Nichts hatte sich hier verändert, nur sie selbst. Es waren die gleichen muskulösen, grobschlächtigen Bergleute, die immer noch ihre Träume heimsuchten. An den Wänden hingen Bilder berühmter Söhne der Stadt, und über der Bar setzten die Pokale und Bänder von zwanzig Jahren Fußballmeisterschaften Staub an. Sie sah die gleichen billigen Wandhologramme, die wie Öffnungen in den Steinmauern wirkten, und die gleichen herzzerreißend grünen Felder Irlands.
    Li lauschte den Gesprächen ringsum, den kantigen Stimmen mit den flachen Vokalen, genoss die gleichen Samstagabendstreitigkeiten, die sie früher zu Tode gelangweilt hatten. Frauen, die ihre Männer zum Tanzen überreden
wollten. Ehemänner, die lieber über Fußball und Politik diskutierten. Der unvermeidliche Tisch mit Gälisch-Sprechern, die ein wenig zu laut redeten und sich ein wenig zu sehr danach anhörten, als hätten sie die Sprache nur aus Büchern gelernt. Die Einzelgänger an der Bar beschäftigten sich in trunkener Ernsthaftigkeit mit den Ungerechtigkeiten des Lebens. Aber natürlich gab es im Molly nicht viele Einzelgänger. Jeder war der Vetter von irgendwem, der Bruder von irgendeinem andern. Selbst der schäbigste Säufer hatte zwei oder drei oder fünf Freunde, die ihm bei einer Auseinandersetzung zur Seite standen oder ihn einfach nach Hause trugen, wenn es nötig war.
    Sie sah die Tür ins Hinterzimmer und konnte sich vorstellen, was an einem geschäftigen Samstagabend darin vorging. Sie erinnerte sich, dass Cartwright das Hinterzimmer regelmäßig besucht hatte. So auch ihr dritter Cousin, der fünf Jahre älter war als sie. Derjenige, mit dem sie auf dem Hügel hinter den Atmosphärekonvertern ihre ersten unbeholfenen, heimlichen Küsse ausgetauscht hatte. Was war mit ihm geschehen? Getötet, dachte sie. Aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob es im Bergwerk oder auf der Erde geschehen war. Wie hatte sie seinen Namen vergessen können? Wie auch immer, alle regelmäßigen Besucher des Hinterzimmers würden heute an einem großen Tisch sitzen. In der Vergangenheit leben. Die nächste vergebliche Geste planen. An jedem Wort hängen, das irgendein glutäugiger Republikaner, der gerade aus Belfast oder Londonderry zurückkam, von sich gab. Sie hatte nie erfahren, ob diese Jungs es ernst meinten oder nicht. Sie wusste es immer noch nicht.
    Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie schaute zur Seite, und ihr Blick begegnete dem eines breitschultrigen Rotschopfs, der an der Rückwand lehnte und sie beobachtete. Er stieß sich von der Wand ab und bahnte
sich mit den Schultern einen Weg durch das Gedränge bis zu ihr.
    »Sláinte«, sagte er, als er sie erreichte. Li bemerkte, dass hinter ihm ein anderer Mann auftauchte. Keiner von beiden lächelte.
    »Selber sláinte« , sagte sie.
    »Brauchst du Hilfe, Schätzchen?«
    »Nur wenn du mir hilfst, allein zu trinken.«
    Er kniff die Augen zusammen. »Ich nehme an, du hast dich verlaufen und bist nur zufällig hier hereingeraten?«
    »Kann sein.«
    »Würdest du denn gern etwas spenden?« Sein Tonfall gab zu verstehen, dass eine Weigerung nicht infrage kam.
    »Wofür?«
    »Irische Waisenhilfe.«
    »Ach so.« Darum ging es also. Li lachte fast. »Wie viele neue Waffen brauchen die Waisen denn diesen Winter?«, fragte sie und zog ihre Brieftasche hervor.
    »Sehr witzig. Und wir nehmen kein Bargeld.«
    Er zog einen tragbaren Scanner aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. Sein Begleiter schob sich hinter ihren Stuhl und schnitt jeden möglichen Rückzug ab.
    Li schaute dem kleineren Mann für einen Moment über die Schulter und sah geradewegs in das trostlose Hologramm eines Eisbergs von der Größe eines Sprungschiffs, der vom Armagh-Gletscher abbrach. Dann zuckte sie die Achseln und fuhr mit der Hand über den Scanner.
    Der Rotschopf warf einen Blick aufs Display, blinzelte und sah sie wieder an. »Was willst du hier?«
    »Ich suche nach Mirce Perkins. Man hat

Weitere Kostenlose Bücher