Lichtspur
wusste, wer oder was zuhörte. »Bitte nicht er.«
Aber er war es doch. Es war der Vater, den Li aus der Zeit seiner schlimmsten Erkrankung in Erinnerung hatte. So dünn, so blass, so in sich zusammengesunken, dass er kaum noch größer war als sie. Er hob eine Hand, um Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen, von denen Li nicht wusste, dass sie sie geweint hatte. Sie fiel ihm in die Arme und vergrub ihr Gesicht im Stoff seines Hemdes, das nach Regen, Kohlestaub und nach ihm roch.
Wir sind so froh. Der Gedanke durchfuhr sie noch intensiver und intimer als Cohens Gedanken. So froh, dass du es warst.
Wir, sagte Li.
Soll ich’s dir zeigen?
Er löste sich von ihr, seine Hände noch auf ihren. Er trat einen Schritt zurück und hob die Hände, um sich das Hemd aufzuknöpfen.
Li zuckte zusammen und riss die Hände vor die Augen. Es war die Geste eines erschrockenen Kindes, jenes Kindes, dessen Erinnerungen Sprung für Sprung aus Li getilgt
worden waren, ohne eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu hinterlassen, keinen Weg von ihren alten Ängsten bis zum Verständnis, das sie in den Jahren, seit sie fortgegangen war, hätte entwickeln sollen.
Es gibt keine Monstren, sagte das Ding in der fleischlichen Hülle ihres Vaters. Nicht hier unten. Nicht einmal du bist eines.
Er knöpfte sein Hemd qualvoll langsam wieder zu. Sie beobachtete ihn, Knopf für Knopf, Atemzug für Atemzug, und wusste, dass ihr Herz aussetzen würde, wenn sie noch einmal dieses schwarze Grauen ansehen musste, das ihre Träume heimsuchte.
Aber der Traum hatte sich verändert. Vielleicht auch sie.
Sein Körper war jetzt eine Karte. Das Leben des Planeten erfüllte ihn – dieses Planeten, der sie beide geboren hatte. Seine siechen Muskeln waren Gebirgszüge. Im Knochenhaus seiner Rippen schwollen Ozeane an und ab. Die Geheimnisse der Erde lebten in ihm.
Li sackte benommen auf die Knie. Ihre Ohren klingelten vom Lied der Felsen ringsum. Sie legte ihre Hände auf ihn, lernte von ihm, studierte ihn. Mit einer einzigen Berührung reifte sie von einer Unwissenden zur Wissenden. Die Welt streckte durch ihn die Hände aus und veränderte sie, und sie ließ es zu. So wie Sharifi es zugelassen hatte.
Verstehst du?, fragte er. Siehst du, was diese Welt sein könnte? Was sie sein will?
Ja.
Glaubst du daran?
Ja.
Wirklich?
Sie zitterte. Denn er fragte sie nicht, woran sie glaubte. Er fragte, was sie dafür zu tun bereit war.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Bitte verlange es nicht von mir. Ich kann nicht tun, was Sharifi getan hat.«
Anakonda-Lagerstätte: 8.11.48.
W eißes Licht. Offene Räume. Ein Falke, der über ihr seine Kreise zog.
Sie stand auf einer trockenen Ebene. Silbergrüner Salbei bedeckte die Hügel. Sonnenblumen marschierten in Reih und Glied durchs Tal wie die Trupps und Bataillone einer Parade auf dem Exerzierplatz. Die Mauer hinter ihr war mit blühendem Jasmin überwachsen, und der moschusartige Geruch der Blüten war so heiß und exotisch wie die strahlende Ebene vor ihr.
Sie zuckte zusammen, als sie hinter sich dumpfe Schritte hörte. Ein großes, langbeiniges Mädchen schlenderte in der gleißenden Sonne über einen Hof, und ihr weißes Hemd bauschte sich vor ihr. Roter Staub bedeckte ihre nackten Füße und ging nahtlos in die goldbraun getönte Haut ihrer Knöchel über. Braune Locken umspielten ihr Gesicht und verhüllten den lächelnden Mund, die nussbraunen Augen.
Cohen?
Sie fühlte ihn in ihrem Geist, ruhig und beruhigend nach der furchterregenden Präsenz in der Kristalldruse.
»Der ganze Planet ist lebendig«, sagte sie, »nicht wahr?«
»Lebendig«, wiederholte er. Sie fühlte, wie er die Idee drehte und wendete, darüber nachsann. »Ich würde sagen, so könnte man es auch ausdrücken.«
»Was will er?«
»Mit uns reden. Oder auch mit unserem Planeten, könnte ich mir vorstellen. Ich fürchte, er versteht nicht, dass wir nicht bloß Teile eines größeren Wesens sind.«
»Und was machen wir jetzt?«
Er sah auf sie hinunter, blinzelte ein wenig im hellen Sonnenlicht. »Das ist für mich nicht dieselbe Frage wie für dich.«
Ihr drehte sich der Magen um, als sie sich daran erinnerte, weswegen sie hier war. Um die Kondensate an Nguyen und TechComm zu übergeben. Um zu tun, wozu Sharifi am Ende nicht bereit gewesen war. Folgte sie immer noch Sharifis Spuren und stand vor den gleichen unmöglichen Entscheidungen, die Sharifi das Leben gekostet hatten?
»Was würdest du tun?«, fragte sie
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