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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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Er hatte unter der überhängenden Kohlemasse eine so tiefe Aushöhlung gegraben, dass nur noch seine Beine hervorragten. Gelbe Doppel-T-Träger aus Virustahl stützten die Schnittkante, und während er arbeitete, schob er die frische geschnittene Kohle daran vorbei, sodass sie sich wie ein riesiger schwarzer Maulwurfshügel aufhäufte. Als er einen entsprechenden Hohlraum geschaffen hatte, stieß er die Keile unter den Trägern weg, und die Kohleschicht brach ab. Ein Kohleflöz ohne Sprengstoff aufzubrechen war eine schwere und gefährliche Arbeit, aber der Mühe wert, wenn es einen hohen Anteil an Kristallen enthielt. Und dies hier war ein reiches Vorkommen: die entblößte Kante der Bose-Einstein-Einschlüsse funkelte im Infrarot blendend hell wie halb vergrabene Diamanten.
    Cartwright hörte sie nicht kommen. Sein Hammer hatte offenbar alle anderen Geräusche übertönt. Sie beobachtete ihn mit angehaltenem Atem. Nach ein paar Sekunden hörte er auf zu hämmern, und sie konnte ihn schwer atmen hören. Als er etwas sagte, vermutete sie im ersten Moment, dass er mit sich selbst redete.
    »Hallo, Caitlyn«, sagte er. »Oder wie immer du dich jetzt nennst.«
    Sie erstarrte, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
    Sie hatte diesen Moment gefürchtet, gescheut. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so sein würde. Hatte er sie gesehen? Sie gehört? Woher kannte er sie?

    Cartwright kroch unter dem Vorsprung hervor. Der Overall rutschte hoch und entblößte knochige Schienbeine. Er war bis zur Hüfte nackt. Über seinen Rücken und seine Schultern zogen sich so dichte Kohlenarben, dass sie wie eine Konturkarte der Berge wirkten, die er ein Leben lang ausgeweidet hatte.
    »Wie lang ist es her, Katie? Achtzehn Jahre? Zwanzig?«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
    Cartwright legte den Kopf schräg, wie ein Hund, der neugierig dem Pfeifen seines Herrchens lauschte. »Du hast immer noch die Stimme deiner Mutter«, sagte er. »Obwohl erzählt wird, dass du sie vergessen hast. Stimmt das? Hast du sie wirklich vergessen? Wie auch immer. Lass dich mal anschauen.«
    Er legte die Hände auf ihr Gesicht, und als sie seine Haut auf ihrer spürte, wurde Li klar, was ihr während dieses Gesprächs so eigenartig vorgekommen war: Es brannte kein Licht. Cartwright hatte in völliger Dunkelheit gearbeitet, ohne Lampe oder Infrarotbrille.
    Er war blind.
    Seine Finger betasteten ihre Nase und Lippen, glitten in die Augenhöhlen. »Du hast dein Gesicht verändert«, sagte er. »Aber du bist Gils Tochter. Mirce hat ihnen gesagt, du wärst gestorben, aber ich wusste Bescheid. Sie hätten es mir gesagt. Sie hatten natürlich ihre Geheimnisse, aber so etwas hätten sie mir nicht verschwiegen.«
    »Wer hätte Ihnen was gesagt?«
    »Die Heilige, Katie. Ihre Heiligkeit. Sag bloß nicht, dass du nicht mehr zu Ihr betest. Das darfst du nicht tun, Katie. Sie braucht unsere Gebete. Sie lebt davon. Und Sie beantwortet sie.«
    Li senkte den Blick und sah das kalte Glühen eines Silberkreuzes auf der vernarbten Brust des Priesters. Ein unterdrückter Schrei hallte von den Felswänden wider, und
sie merkte, dass der Schrei aus ihrer eigenen Kehle gekommen war.
    Cartwright plauderte weiter, als habe er sie nicht gehört. »Du bist gekommen, um mit mir über das Feuer zu sprechen, nicht?«
    Li schluckte und ordnete ihre Gedanken. »Wodurch wurde es ausgelöst, Cartwright?«
    »Sharifi.«
    »Wie? Wonach hat sie gesucht? Was sollten Sie für sie tun?«
    »Was Hexen immer tun: Kristalle aufspüren.«
    »Aber Sharifi hatte die Konzernhexe zur Verfügung«, sagte sie.
    »Schon, aber der hat sie offenbar nicht vertraut, stimmt’s? Anfangs jedenfalls nicht. Sie hat sie nur für die Drecksarbeit eingesetzt.«
    »Sie meinen die Arbeit im Trinidad. Aber wozu wurde die Hexe überhaupt noch gebraucht, wenn man das Konden… äh, die Kristalle bereits gefunden hatte?«
    »Sie brauchte immer noch jemanden, um sie zu besingen, nicht wahr? Sie brauchte immer noch jemanden, um zu ihnen zu sprechen. Sie brauchte jemanden für ihre verdammten Tests. Ich wollte nicht für sie arbeiten. Sie wollte ohnehin keinen Priester.« Er verzog das Gesicht. »Sie war nicht gläubig.«
    »Ich verstehe Sie nicht. Was wollten Sie nicht für sie tun?«
    »Haas’ Arbeit«, antwortete Cartwright. »Teufelswerk.«
    »Aber sie hat es sich anders überlegt, nicht?«, fragte Li, die auf einmal felsenfest davon überzeugt war, dass Cartwright Bescheid wusste, dass er von Anfang an

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