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Liebe 2.0

Liebe 2.0

Titel: Liebe 2.0 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mareike Giesen
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Jonas&Julia-Schattenrisse im fahlen Licht der Laterne in
Bewegung. Und ehe ich mich versehe, sitzen sie sich gegenüber, so wie wir
damals vor etwas über einem halben Jahr…
    Zwischen Jonas und mir liegen drei
unterschiedliche Haufen aus Namensschildern, Organzasäckchen und weißen
Mandeln, die wir in Akkordarbeit zusammenfügen: Fünf Mandeln pro Säckchen,
zuziehen, Namensschild anbinden, fertig. Es sind noch drei Tage bis zur
Hochzeit, und ich empfinde diese stumpfsinnige Arbeit direkt als meditativ. Die
Ruhe vor dem Sturm. Nur dass der Sturm ein ganz anderer werden wird, als
erwartet. Und schon in circa einer halben Minute ausbricht.
    Gerade will ich
ein neues Säckchen von meinem Zukünftigen entgegennehmen, um ein farblich
passendes Clara-Schildchen anzuknüpfen, da hält Jonas mit einem Mal mitten in
der Bewegung inne. Zuerst merke ich es gar nicht. Aber da sich seine Hand
verkrampft und die Mandeln partout nicht loslassen will, sehe ich schließlich
auf und erschrecke. Es ist ein ganz komischer Blick, mit dem Jonas mich
ansieht. Ein Blick, den ich so zuvor noch nie bei ihm gesehen habe – und von
dem es doch schon unzählige Vorboten in den letzten Wochen und Monaten gab.
Etwa wenn Jonas sich morgens zur Arbeit verabschiedete. Oder wenn wir abends in
der Schlange am Kino anstanden. Wenn wir uns am Küchentisch gegenübersaßen. Im
Bett übereinander lagen. In der Eisdiele. Auf dem Sofa. Beim Müllrausbringen…
Oder aber auch, wenn ich mich selbst im Spiegel betrachtete. Zuerst nur ab und
zu. Dann immer häufiger. Und schließlich beinahe täglich. Doch wir taten beide
so, als würden wir nichts merken. Machten weiter, als könnten wir die
verschwindende Liebe und wachsenden Zweifel aussitzen wie bei einem
Gewerkschaftsstreik. Stoisch blickten wir nur nach vorne und vermieden damit
jeden weiteren verräterischen Augenkontakt – bis zu diesem Tag.
    Auf einmal
können wir nicht mehr ignorieren, dass etwas nicht stimmt, dass unser Paradies
so, wie wir es kannten, nicht mehr existiert. Es ist eine Erkenntnis von fast
biblischem Ausmaß – mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir keine Schlange
dabei haben, der wir unsere Vertreibung aus dem Garten Eden in den Schwanz
schieben können. Wir sind es selbst Schuld. 
    Eine ganze Weile
starren wir uns an. Wer übernimmt jetzt die undankbare Aufgabe, das
diplomatische Schweigen der letzten Monate zu brechen? Zermürbende Stille.
Keiner von uns beiden reißt sich darum, den Anfang vom Ende zu machen. Dann
aber besinnt sich Jonas auf die Pflichten des Gentleman und sagt mit seltsam
tonloser Stimme: „Vielleicht sollten wir das nicht tun.“
    Wir sollten das
nicht tun . Tun – ein Verb, das dir normalerweise die Welt eröffnet: Just
do it! Steig auf den höchsten Berg, tauch in den tiefsten See, pflanz einen
kleinen Baum, bau dir ein großes Haus. Kurz: Mach was aus deinem Leben! Aber
wir, wir haben dieses kleine Wörtchen in seinen unbegrenzten Möglichkeiten
aufgehoben. Denn wir sollten es nicht tun. Mit einem Schlag ist für uns
eine ganze Welt ausgelöscht. Wir sind ab sofort keine Option mehr. Und
so gibt es keinen anderen Ausweg als den, unsere bis gerade eben emsigen Hände
von jetzt auf gleich in den Schoß zu legen. Keine Ersatzhandlung mehr. Keine
Ablenkung von dem, was uns wirklich beschäftigt.
    „Vielleicht hast du Recht“, antworte ich. Wie Jonas bringe ich es nicht
übers Herz, das letzte Quäntchen Hoffnung auf einen anderen Ausweg auszusparen.
Dabei wissen wir beide, dass unser vielleicht dort, wo wir mittlerweile
angekommen sind, nichts mehr zählt. Es ist ein leeres Füllwort geworden, genau
so wie das Ja , das wir uns in drei Tagen geben wollten.
    Ich knipse das Licht an, und
ertappt springen die Schattenrisse auf und stellen sich wieder einträchtig
Händchen haltend an die Wand. Aber sie interessieren mich gar nicht weiter.
Stattdessen stehe ich auf und gehe zielstrebig zu einem der Regale, wo ich
hinter die Reihe meiner gesammelten Nesthäkchen -Bände greife und
zwischen Band vier und fünf eine kleine samtene Schachtel hervorziehe. Ein
tiefer Atemzug, und ich klappe die Box auf. Da ist er, klein und unschuldig:
ein zierlicher Weißgoldring mit Solitär. Seit Monaten in diesem dunklen Verlies
eingesperrt, ohne Körperwärme oder eine Ahnung davon, was er falsch gemacht
haben könnte.
    „Lass es uns tun!“, hatte Jonas damals zu mir gesagt, und plötzlich
diesen Ring in seiner Hand gehalten. Es war im Spätsommer, wir saßen an

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